Ohnhoffverzweifenttäuschlosigkeit
„Ohnhoffverzweifenttäuschlosigkeit“ ist ein literarischer Blog über Menschlichkeit in Zeiten der Medizin – und darüber, wie das Leben selbst in seinen Bruchstellen leuchtet.
Was bleibt, wenn das große Wort Krebs den Raum betritt? Eine Diagnose verändert den Blick – nicht nur auf den Körper, sondern auf das Leben selbst. In seinen Aufzeichnungen beobachtet der Autor mit leiser Ironie und präziser Zärtlichkeit, was bleibt, wenn Gewissheiten verschwinden. Zwischen Klinikfluren und Gesprächen mit Freunden entsteht ein Protokoll des Weiterlebens – klug, berührend, überraschend hell.
Dieser Blog ist kein Ratgeber und kein Heldenepos. Er ist eine präzise, hingebungsvolle Vermessung der Gegenwart. Was hilft, wenn nichts hilft? Wie spricht man mit Ärztinnen, mit Freunden, mit sich selbst? Wo wohnt Mut an schlechten Tagen – und wie klingen dankbare? Wer mitliest, findet keine fertigen Antworten, aber eine Haltung: realistisch, neugierig, liebevoll. Eine Liebeserklärung an das Leben selbst.
Der Erzähler begleitet sich durch Diagnosen, Therapien und Gesprächszimmer – und entdeckt dabei ein unerwartetes Inventar: Humor, der entkrampft. Freundlichkeit, die trägt. Medizin, die staunen lässt. Und eine neue Langsamkeit, die gewöhnliche Tage in kostbare verwandelt. Seine Texte sind medizinisch präzise, literarisch geschliffen, zutiefst menschlich – eine Mischung aus Tagebuch, Essay und stillem Gebet.
Ein Blog, der tröstet, ohne zu beschönigen. Ein literarischer Beweis, dass man das Leben nicht neu erfinden muss – nur bemerken.
Einleitung
Am 25. April 2015 ereignete sich am Himalaya, genauer gesagt in der Region des Mount Everest-Basislagers, ein schweres Erdbeben. Die durch das Erdbeben ausgelöste Lawine, die ein Dorf am Fuße des Berges traf, forderte tausende Todesopfer. Jost Kobusch, ein deutscher Bergsteiger und damals 22-Jähriger Mann, filmte die Katastrophe kurz nachdem das Beben die Lawine ausgelöst hatte. Ich sah ihn später in einem Interview als er gefragt wurde, warum er nicht weggerannt sei, um sich in Sicherheit zu bringen. Er antwortete damals sinngemäß: Mit 22 ist Sterben keine Option. Klares Sehen.
Ja, wenn man so knapp vier Dekaden mehr im Lebensrucksack hat, kommt einem dieser Satz dann nicht mehr so leicht über die Lippen. Die Gesundheitsvorsorge stand wieder mal auf dem Programm. Der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland brachte es schon vor gut 250 Jahren auf den Punkt: Vorbeugen ist besser als heilen. Von ihm stammt auch das Buch Makrobiotik oder Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern. Also, los geht’s. Long live longevity!
Ende April 2025
Mein komplettes Blutbild wurde gecheckt und für gut befunden. Na gut, die 0.3 ng/ml über dem PSA-Normalwert von 4.0 ng/ml beindruckten weder mich noch den Urologen. Ich fahre ja auch täglich ausgiebig mein Rennrad und im Herbst des Lebens breitet sich die Vorsteherdrüse eben gerne auch mal räumlich ein wenig aus. Platzhirschen. Als Sahnehäubchen obendrauf gab es noch eine transrektale Ultraschallsonde und dazu gestochen scharfe und detaillierte Schnittbilder. Im Prinzip war alles in guter Ordnung.
Auf Anraten des Doktors ließ ich auch noch die Tumormarker bestimmen:
Karzinoembryonales Antigen (CEA) = 2,6 ng/ml [< 5]
Antigen Ca 19.9 = 3,0 U/ml [< 37]
Das sah doch schon mal gut aus.
Ich sollte in 3-4 Wochen erneut einen PSA-Wert-Test machen lassen und vorher 10 Tage Fahrradfahren vermeiden. Das Ergebnis sei sonst möglicherweise verfälscht, denn das wallnussgroße Prostatachen ist etwas druckempfindlich. Das schmeckte meinem Radlerego überhaupt nicht und generell hatte ich das Gefühl, nicht wirklich wahrgenommen worden zu sein. Na ja, mir ging es ja auch nicht zu 100%. Die leichten Schmerzen in der linken Leistengegend, die ich schon seit Wochen spürte, fanden während der Untersuchung kaum Beachtung. Also machten sie anschließend weiter auf gesellig und stichelten wann immer sie konnten.
Anfang Mai 2025
Auch deshalb ein paar Tage später der nächste Termin. Diesmal bei der Hausärztin. Nun wurde auch der gesamte Beckenbereich mit Ultraschall untersucht. Dem Resultat des bildgebenden Verfahrens konnte nicht wirklich eine Diagnose entlockt werden. Am Ende der Untersuchung stand ein Verdacht auf einen Mikroleistenbruch bzw. einer leichten Entzündung des Hüftbeugermuskels. Ibuprofen war angesagt. 10 Tage lang 4 x 600 mg und zusätzlich jeden Tag eine Pantoprazol-Tablette, die die Magensäure im Magen reduziert, denn Ibuprofen schwächt gerne mal die Magenschleimhaut. Voilà. C’est ça.
Dumm nur, dass sich die Symptomatik danach nicht verbesserte. Die Leistengegend fühlte sich immer noch leicht gereizt an und eine meiner Familienjuwelen, mein linkes Nüsschen, machte jetzt auch auf Entzündung und warb so ebenfalls um Aufmerksamkeit.
Anfang Juni 2025
Also, auf ein Neues. Diesmal lautete die Diagnose bei der Hausärztin: Verdacht auf Divertikutitis. Also eine Entzündung von Ausstülpungen (Divertikel) in der Darmwand die man ebenfalls im linken Leistenbereich spürt. Der neue Therapieansatz: Antibiotikum. Für die nächsten 10 Tage war zweimal täglich Augmentan 875 mg/125 mg auf der Verordnung. Danach war ich zwar im Supermarkt der mit Abstand beste Kunde für alle Kefirprodukte, trotzdem schwenkte mein Magen-Darm-Trakt jetzt ab und zu die weiße Fahne. Die Schmerzen im Leistenbereich machten es sich weiterhin gemütlich.
Und täglich grüßt das Murmeltier.
Ende Juni 2025
Auch meine Hausärztin schwenkte zu diesem Zeitpunkt das Fähnchen und riet mir doch eine Darmspiegelung durchführen zu lassen. Mit 60 Jahren stand dies ohnehin wieder mal auf der to-do Liste. Die Koloskopie sollte endlich Aufschluss bringen.
Am 23.06. fuhr ich dann brav in die Klinik zum Gastroenterologen. Als ich dann im Untersuchungszimmer auf dem Behandlungstisch lag, fragte mich der Doktor, ob ich mich bezüglich der leichten Narkose entschieden hätte. Ja, das hatte ich und lehnte dankend ab. Irgendwie hat er mich dann doch recht charmant überredet und ich fiel in einen unfassbar angenehmen Propofol-Dämmerschlaf. Vielleicht sollte ich meine Einstellung zu Drogen ein wenig überdenken. Wo bitte kann man dieses Zeug online bestellen?
Als ich aus meinem entspannten Zustand wieder erwachte, war alles bereits vorbei und der Doc erklärte mir, dass alles in bester Ordnung sei. Die beiden Gewebeproben (Biopsien), die er sicherheitshalber genommen hatte, würden untersucht und mir das Ergebnis dann schriftlich mitgeteilt. Eine Woche später kam der Befund: Negativ. Mein Ego applaudierte.
Meine Beschwerden im linken Oberbauch applaudierten ebenfalls. Die offensichtlich komplizierte Ursachenschnitzel-Jagd ging also weiter.
Anfang Juli 2025
Ich lag wieder einmal bei meinem Osteopathen auf der Folterbank und bat ihn um Rat. Nach einer einstündigen Behandlung legte er sich auf ein Lendenmuskel-Syndrom fest. Der Musculus iliopsoas ist für alles mögliche im Beckenbereich zuständig, ist daher gerne mal überlastet und neigt ebenfalls zu entzündlicher Symptomatik. So 100% war er sich allerdings nicht sicher und empfahl mir einen Urologen, mit dem er sehr gute Erfahrung gemacht hatte. Wer braucht Hobbies, wenn man sich im Vorsorgeuntersuchungsrad befindet? Schon am nächsten Tag bekam ich einen Termin.
Uro Nummer 2 war ein sehr freundlicher und geduldiger Arzt. Er hörte meiner Anamnese aufmerksam zu und bat mich anschließend in den Untersuchungsraum. Bevor er anfing, wollte er noch eine Urinprobe. Ergebnis: Negativ. Keine Entzündungen. Er tastete meinen Unterleib ausführlich ab und vollzog auch noch eine digitale rektale Untersuchung durch.
Für die geneigten Lateiner unter uns: Digitus = Finger.
Er war sich seiner Sache absolut sicher. Meine Beschwerden kämen von einer Samenleiter- und Nebenhoden-Entzündung. Alles andere wurde ja bereits ohnehin ausgeschlossen. Im Abschlussgespräch erklärte er mir auch noch sehr genau die Anatomie und Funktion und verschrieb mir dann ein Antibiotikum. Ciprofloxacin. Antibiotikum laut Wikipedia: Früher auch Antibioticum, von griechisch ἀντί- anti- „gegen“ und βίος bios „Leben“. Ich nehme es vorweg: Genauso fühlte sich die Therapie dann auch an.
Und warum auf den Wirkungseintritt der weißen Tabletten warten? Obendrauf gab es auch noch eine die-wirkt-sofort Spritze mit Gentamicin 240 mg. Sozusagen als magenschonendes Antibiotikumdepot in meinem Gesäß. Ha, und mal ganz ehrlich, wer liest schon gerne den kleingedruckten Beipackzettel durch: Aufgrund seiner potenziell starken Nebenwirkungen, wird es nur bei schweren bakteriellen Infekten eingesetzt. Die Nebenwirkungen von Ciprofloxacin erspare ich Ihnen an dieser Stelle. Minus mal Minus ist ja bekanntlich Plus.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Ich sollte das Antibiotikum erstmal 14 Tage lang einnehmen. Eine Tablette mit 500 mg morgens und abends. Allerdings sollte ich mir keine allzu große Hoffnung auf eine schnelle Besserung machen. Die Heilung würde wohl mehrere Wochen in Anspruch nehmen und der Urologe berichtete von Patienten, die die Therapie bis zu 12 Wochen durchführen mussten.
Ich beschloss den Supermarkt zu umgehen und die gesamte Kefir-Produktpalette direkt bei Müllermilch zu bestellen.
Mitte Juli 2025
Das fermentierte Milchprodukt leistete diesmal ganze Arbeit und nach zwei Wochen hatte ich nicht eine Antibiose-Nebenwirkung verspürt. Allerdings hatte sich meine SL- & NH-Entzündungsgesamtsituation nicht verbessert. Leider. Ich musste also wieder zum Facharzt. Nach einer weiteren eingehenden Untersuchung hielt der Doktor an seiner Primärdiagnose fest, und ich bekam die nächste Spritze in den Allerwertesten und noch ein Rezept für weitere 14 Tage Antibiotikum. Mittlerweile war ich Anteilseigner bei Müllermilch. Alles Müller – oder was?
Ende Juli 2025
Der langersehnte Frankreichurlaub stand in den Startlöchern. Das entzündliche Befinden war allerdings noch immer im Aufmerksamkeitserhaschungsmodus. Ich wollte allerdings auf Nummer sicher gehen bevor ich ins Land der unbegrenzten Baguettes aufbrach und wollte daher vorher noch einen Check-up-Termin haben. Uro Nummer 2 war offensichtlich unpässlich, denn ich wartete schon seit drei Tagen auf eine Terminbestätigung. Also musste wieder mal Google ran. Uro Nummer 3 war schnell ausfindig gemacht und ich bekam noch am selben Tag einen Termin. Ein sehr freundlicher und aufmerksamer Facharzt. Ich erläuterte ihm meine Situation. Er sagte, wenn er mich jetzt auch nochmal ultraschallen soll, würde das Euro 150,– kosten und er fand, das könne man sich sparen. Er bestätigte die Diagnose von Uro Nummer 2 und verschrieb mir allerdings ein anderes Antibiotikum. Levofloxacin 500 mg. Das sollte ich alternativ und für zwei Wochen einnehmen. Na dann …
Als ich aus der Apotheke wieder herauskam klingelte mein Telefon. Uro Nummer 2 war am anderen Ende. Er entschuldigte sich für das verspätete Rückmelden und bat mich das Levofloxacin nicht zu nehmen, nachdem er vernommen hatte was Uro Nummer 3 verschrieben hatte. Die Nebenwirkungen seien noch ungünstiger. Daher verschrieb mir der Bauch- und Unterleibs-Inspektor zum dritten Mal Ciprofloxacin. Das Rezept kam per Email. So geht schnell. Frankreich, ich komme …
Nach ein paar Tagen hatte ich das Gefühl, dass ich mich seit Wochen ausschließlich von Antibiotika ernähren würde. Na ja, Antibiotika sind ja auch “Bio-Produkte” von Mikroorganismen (Pilze), oder sie werden von Menschen in Laboren gebastelt.
So gesehen …
Anfang August 2025
Schließlich warf jetzt auch der Kefir das Handtuch. Kann man wirklich alle Nebenwirkungen haben, die im Beipackzettel beschrieben sind? Ja, man kann. Ich hatte Schwindelanfälle, einen Blähbauch, stärkste Rücken- und Knieschmerzen. Ich konnte nur noch rückwärts die Treppe runterlaufen während ich mich dabei am Handlauf festhielt, und alle positiv gesinnten bakteriellen Mitarbeiter meines Magendarmtrakts befanden sich nach der Urabstimmung im unbefristeten Streik. So fühlt man sich also, wenn man sich so richtig Scheiße fühlt.
Ich kontaktierte den Urologen Nummer 2 und bat um ferndiagnostische Hilfe via Email. Ich beschrieb ihm meine oben geschilderte Situation und bekam die folgende Antwort:
Ich möchte hier einige Punkte klarstellen:
1. Die Diagnose ist bestätigt, und diese Erkrankung hat neben den notwendigen Medikamenten auch Auswirkungen auf den Magen-Darm-Trakt. Ich empfehle die Einnahme eines Probiotikums wie Lactibiane Reference oder Toleranx.
2. Heilung braucht Zeit, Geduld und positive Einstellung, was für Patienten nicht immer einfach ist, weil es dauert.
3. Orale Medikamente dringen nur teilweise in die betroffenen Organe ein, insbesondere in die Samenbläschen und den Samenleiter.
In jedem Fall ist eine Heilung eingetreten. In der Hoffnung, Ihnen damit weiterhelfen zu können, wünsche ich Ihnen alles Gute.
Er schrieb dann noch, dass ich das verschriebene Antibiotikum zu Ende nehmen sollte und danach würde mein Körper den restlichen Heilungsprozess übernehmen.
Verbum tuum in aurem Dei.
Mitte August 2025
Ich war froh, dass ich keine Medikamente mehr zu mir nehmen musste. Nach zwei, drei Tagen verbesserte sich meine Nebenwirkungssituation und ich fühlte mich etwas besser. Das entzündliche leichte Brennen des Samenleiters und der linken Nuss war tatsächlich etwas abgeflacht. War das die Trendwende?
Ab dem vierten Tag meldeten sich dann meine beiden Lymphknoten in der Leistengegend. Plop. Beide waren ordentlich raumgreifend und fühlten sich recht hart an. Allerdings komplett schmerzfrei. Heutzutage googelt man ja nicht mehr, sondern nutzt den persönlichen ChatGPT-Assistenten. Das tat ich dann auch und fütterte ihn mit allen medizinischen Daten der letzten Wochen. Seine vorbehaltliche und medizinisch unverbindliche Diagnose: Das hinge wohl mit der noch nicht ganz abgeklungenen Entzündung zusammen und damit das die Lymphozyten im Hochtourenmodus die Krankheitserreger bekämpften. Danach war ich entspannter.
Auf mein Immunsystem war bis dato immer Verlass.
Ab dem sechsten Tag gesellten sich dann plötzlich auch die Lymphknoten oberhalb des linken Schlüsselbeins dazu. Hmmm!? Die Lymphknotenaktivität im Leistenbereich hatte ja einen örtlichen Zusammenhang, aber warum nun weit weg vom eigentlichen Geschehen?
ChatGPT kam auch ein wenig ins Grübeln, sah allerdings durchaus eine mögliche Konnektivität. Ich beobachte die lymphatischen Organe noch ein paar Tage und beschloss am zehnten Tag nach der Absetzung des Antibiotikums meine Hausärztin anzurufen.
Ferndiagnostisch könne sie dazu natürlich wenig sagen, allerdings stimmte sie ein wenig in den ChatGPT-Chor ein und bestätigte einen möglichen Zusammenhang. Ich solle nicht mehr googeln, mir keine großen Sorgen machen und auch meinen persönlichen ChatGPT-Assistenten in den Urlaub schicken. Sobald ich wieder zurück sei, sollte ich mich melden, um eventuell weitere Untersuchungen durchzuführen zu lassen. So richtig geholfen hatte mir die liebgemeinte Hilfestellung allerdings nicht. Das Gedankenkarussell drehte sich nachdenklich weiter. Ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war.
Tage später telefonierte ich mit einer guten Freundin und wir hatten ein kurzweiliges Telefonat. So etwas ist immer eine schöne Ablenkung. Allerdings erfuhr ich, dass eine ihrer Töchter an Lymphdrüsenkrebs erkrankt war und glücklicherweise erfolgreich behandelt werden konnte. Als ich ihr dann von meiner Situation erzählte, wurde sie hellhörig und haute mehrfach hörbar mit dem Alarmklockenhämmerchen auf die Alarmglocke. Das war nicht zu überhören. Sie gab mir ein paar wichtige Ratschläge und bat mich nichts schleifen zu lassen. Das muss untersucht werden. Das versprach ich ihr dann auch.
Ende August 2025
Die restlichen Urlaubstage verliefen ohne weitere Veränderung meiner lymphatischen Situation und so machte ich mich auf den Heimweg. Kurz vor der Abfahrt organisierte ich noch einen Termin bei einem Labor für Blutanalysen und hatte Glück, schon am Tag nach meiner Rückkehr durfte ich Blut spenden. Ich ließ das komplette Blutbild analysieren und mir wurde gesagt, dass ich die Ergebnisse so in 3-4 Tagen erhalten werde.
Alles in allem sah das Ergebnis ganz gut aus. Hier und da ein leicht über der Grenze erhöhter Wert, der wohl mit der ganzen Antibiose zusammenhing. Der PSA-Wert allerdings sah rekordverdächtig aus. 15.3 ng/ml. Eine fast vierfache Erhöhung innerhalb von vier Monaten. Beim Lesen der Zahlen wurde mir ein wenig schlecht und danach noch schlechter.
Ich kontaktierte sofort den Urologen Nummer 2, beschrieb meine Situation und bat um eine schnellstmögliche Antwort. Die kam dann auch prompt:
Vielen Dank für Ihre E-Mail, die ich gerne beantworte.
Wie ich Ihnen bereits immer mitgeteilt habe, handelt es sich um eine langjährige, tiefe Infektion der unteren Harnwege.
Ich denke, unter Berücksichtigung Ihrer Angaben gibt es derzeit drei mögliche Optionen:
- Abwarten und die Behandlung mit pflanzlichen Naturheilmitteln (Viacare, Tiobec Dol) fortsetzen.
- Beispielsweise Genta Gobens jetzt dreimal intramuskulär verabreichen, im Abstand von 3 bis 5 Tagen.
- Abwarten und später eine kombinierte Genta Gobens-Therapie durchführen, ggf. lokal in Kombination mit z. B. 1 Gramm Ceftriaxon, 3- bis 4-mal.
Wir müssen die beste Option besprechen, am besten telefonisch. Vielleicht können wir dies telefonisch besprechen, ggf. per WhatsApp. Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüße Sie herzlich.
Mit anderen Worten: Erneut mit Antibiotikum draufhauen.
Ich rief meine Hausärztin an und wollte sie dringend sehen. Am nächsten Tag hatte ich einen Termin. Mir schwante nichts Gutes.
Ich wurde wieder mit Utraschall untersucht und die vergrößerten Lymphknoten über dem linken Schlüsselbein kamen auch ihr sehr suspekt vor. Mittlerweile war es eine richtige Anhäufung von geschwollenen Lymphknoten. Nach weiteren Standarduntersuchungen, die alle ohne Befund verliefen, sowie der Besprechung der Blutbildanalyse, empfahl mir meine Hausärztin ein CT durchführen zu lassen. Freundlicherweise konnte Sie mir einen zeitnahen Termin in einer Radiologie vereinbaren. Eine Woche später lag ich in der Röhre.
Anfang September 2025
Krankenhäuser heißen ja nicht ohne Grund Krankenhäuser. Abgesehen von einer Sportverletzung im Jahre 1988 hatten mich Krankenhäuser immer nur als Besucher gesehen.
Ich gebe gerne zu, das Wort Hospital klingt freundlicher. Gastfreundschaft, also hospitalitas hat etwas positives. Das wäre doch mal ein Regierungsauftrag. “Lauterbach übernehmen Sie!”
02. September 2025 – Ground zero
Ich sollte mich meines Beinkleides entledigen und mich auf den CT-Tisch legen. Danach gab es noch einen Venenzugang für das Kontrastmittel und es ging los. Die Röhre war großzügig gestaltet und wenig klaustrophobisch. So hab ich das gerne. Nach 30 Minuten war alles vorbei. Ich bekam noch eine CD mit den Aufnahmen der Untersuchung und radelte direkt zur Hausärztin. Sofortbefriedigung war angesagt. Dort angekommen sahen wir uns beide die verschiedenen Computertomographie-Schnittbilder an. Ich war von der Technik tief beindruckt, konnte allerdings nur Bahnhof erkennen. Meine Hausärztin hatte einen wesentlich besseren Überblick, allerdings konnte sie nicht genau erkennen, ob da auch noch andere Lymphknoten aus der Reihe tanzten. Sie war da auch ganz offen und ehrlich, sie sein keine Radiologin.
Ich bat sie freundlich mir die Bilder via Email zu schicken. Ein guter Freund von mir hat eine eigene radiologische Praxis, und ich erhoffte mir von ihm mehr und vor allem schnelleren Durchblick, denn die freundliche Rezeptionisten der Radiologie sagte mir am Morgen, dass der Befund so in 5-6 Tagen automatisch an die Hausarztpraxis geschickt werde. Soviel Zeit haben Schützen nicht. Ungeduld ist eine Tugend.
Ich bekam die Bilder am Nachmittag und leitete diese sofort weiter und bat meinen Freund um Unterstützung. Er meldete sich umgehend und versprach mir die Aufnahmen am Abend zu checken.
Gegen 18 Uhr klingelte das Telefon. Ich sei ja ein Spaßvogel, ich hätte ihm 2.400 Einzelbilder von meiner Untersuchung geschickt, die könne er sich jetzt ja nicht einzeln anschauen. Er bräuchte natürlich das dazugehörige Programm der CD. Hallo?! 2025! CD’s? Ein CD-Laufwerk? Der nachvollziehbare Wunsch überforderte mich etwas. Ich konnte ihm da wenig helfen. Er wollte im Internet checken, ob es da ein Programm bzw. eine Applikation gibt und wollte sich wieder melden. Innerlich hatte sich mein ungeduldiger Sagittarius damit von einer schnellen Diagnose ein wenig verabschiedet.
Ich verschaffte ihm und mir eine angenehme Ablenkung. Abendessen mit guten Freunden stand auf dem Programm. Das Dinner war lecker und kurzweilig und danach gab es noch ein sahnecremiges Bourbon-Vanilleis auf die Hand. Wir schlenderten ziellos durch Straßen und genossen die laue Sommernacht, als plötzlich mein Handy klingelte. Es war 22:37 Uhr. Im Display leuchtete der Name meines Freundes, der Radiologe. Er sagte den folgenden Satz: “Ich habe jetzt erstmal eine Flasche Wein getrunken bevor ich Dich anrufen konnte …” .
Im englischen heißt das “Sucker punch”. Google übersetzt das wie folgt: Sucker-Punch {m} [überraschender, hinterhältiger Angriff]. So richtig konnte oder wollte ich nicht verstehen, was er mir anschließend am Telefon erläuterte. Gefühlt lag ich hilflos auf meinem Rücken im Ring und bekam nicht mal mehr mit, dass mich der Ringrichter bereits bis 10 angezählt hatte.
Ich bat ihn noch mir eine kurze schriftliche Zusammenfassung zu schicken, damit ich diese der Hausärztin schicken konnte. Hier seine WhatsApp-Nachricht im Wortlaut:
– Große pathologische Lymphknotenpakete links supraclavikulär und abdominell paraaortal, geringer auch mediastinal.
– Rechte Niere und Harnleiter mäßig gestaut, Entlastung durch Harnleiterschiene notwendig.
– Verdacht auf Knochenmetastasen.
– Große Prostata mit kräftiger Samenblase.
– In Zusammenschau mit dem deutlich erhöhten PSA: Prostatakarzinom möglich. Abklärung dringend erforderlich durch Prostata MRT oder Stanzbiopsie.
Sorry für den Scheiß-Befund!! 😔😘
Er bat mich schnellstmöglich zu ihm in die Radiologie zu kommen, um ein MRT durchführen zu lassen. Eine exakte und verlässliche Analyse war jetzt das Wichtigste. Er wollte absolute Gewissheit.
Wahrscheinlich in einer Art Übersprungshandlung rief ich wahllos mir nahstehende und wichtige, liebgewonnene Menschen an und teilte ihnen die vorläufige Diagnose mit. Ich glaube, das hat mir in dieser Situation geholfen und mir auch das Gefühl gegeben, dass ich noch die Zügel in den Händen hielt. Ich spürte jedoch, wie die Ohnmacht sich ganz langsam breit machte.
So fühlt es sich also an, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
Meine Freunde standen ca. 30 Meter von mir entfernt. Sie sahen nun auch irgendwie besorgt aus. Ich ging zu Ihnen und teilte ihnen meine Diagnose mit.
05. September 2025
Bereits drei Tage später war ich zur MRT-Untersuchung in der radiologischen Praxis meines Freundes. MRT bedeutet ja eigentlich „Magnetresonanztomographie“. In meinem Fall wäre allerdings „Maximales Röhren-Trauma“ die treffendere Bezeichnung gewesen.
Sicherheitshalber fragte ich vor der Untersuchung noch, ob ich nicht ein Beruhigungsmittel bekommen könnte, denn meine Beine waren beim Anblick der Röhre bereits in den Quarkmodus übergegangen. „Ja klar, das können Sie haben – aber dann dürfen Sie anschließend kein Auto mehr fahren“, erklärte mir die freundliche Mitarbeiterin. Na gut, 45 Kilometer zu Fuß nach Hause waren dann auch keine wirkliche Alternative. Also biss ich die Zähne zusammen: Augen zu und durch. Es sollte ja auch nur 40 Minuten dauern.
Spoileralarm: Es wurden 60 Minuten.
Ich hätte da übrigens noch einen Vorschlag, um den sich der Gesundheitsminister a.D. Karlchen Überall kümmern könnte: Bitte MRT offiziell in LBS umbenennen. „Lebendig-Begraben-Syndrom“ trifft es einfach besser. In einem Sarg hat man auch nicht mehr Platz, um sich zu bewegen. Während der Untersuchung gibt es dann obendrauf noch Klopf-, Säge- und Knarrgeräusche zu hören, die bis zu 130 Dezibel erreichen. Alternativ kann man sich allerdings auch gleich eine Schlagbohrmaschine ans Ohr halten. Kopfhörer nicht vergessen!
Das ich Radio FFH hören musste, machte die Sache nicht besser.
Die Primärdiagnose wurde bestätigt. Ohne Zweifel. Ich hatte ein synchron metastasierendes, hormonsensitives Prostatakarzinom im Stadium 4. Ich starrte mechanisch auf den Monitor, während mir mein guter Freund und Radiologe die Bildsequenzen erläuterte. Ich verstand weiterhin nur Bahnhof. Ich nahm das Ganze noch mit meinem Handy auf Video auf, und wir sprachen ein wenig über mögliche nächste Schritte. Allerdings sei er kein Urologe bzw. Onkologe und könne mir daher nicht wirklich weiterhelfen. Wir umarmten uns, und ich machte mich auf den Heimweg.
Während der fast zweistündigen Im-Stau-Steh-Rückfahrt – dank Innenstadtsperrung wegen eines Bombenfunds – telefonierte ich ausführlich mit meinem Hausarzt. Er hatte gute Kontakte zu einem bekannten Facharzt für Urologie in Frankfurt und wollte diesen kontaktieren, um mit ihm meine Situation und das mögliche Prozedere zu besprechen. Ich überlegte derweil, ob ich nicht einfach an der Polizeisperre vorbeifahren und die Bombe selbst entschärfen sollte.
Ich spürte, wie sich in mir etwas Unangenehmes zusammenbraute, und war fassungslos, dass ich monatelang falsch behandelt worden war. Warum hatte niemand früher die diagnostische Reißleine gezogen? Mein Immunsystem mit Antibiotika so herunterzufahren, konnte nicht gut gewesen sein. Hätte, könnte, wäre. Das Handy klingelte. Der Facharzt war informiert und wollte sich melden. War das der erste Babyschritt?
Ich fühlte, wie ohnmächtig – sprichwörtlich ohne Macht – ich war. Warten bekam für mich eine neue Dimension. Minuten wurden zu Stunden. Ich dachte an einen Song von Herbert Grönemeyer und textete ihn ein wenig für mich um:
“Verwegen in mein Leben gestartet
Mit bedingungslosem Urvertrauen
Mich ganz unverschämt in Deine Hand gegeben
Hier bin ich, jetzt kommst du
Du hast mich so gewollt, ja
Jetzt sieh zu, was du mit mir tust”
Ich summte ein wenig vor mich hin und nahm gedanklich auf dem Beifahrersitz Platz. Mein Lenkrad hielten jetzt andere in der Hand.
Den Abend verbrachte ich im Garden Eden. Offensichtlich lag ich nun unter dem Apfelbaum und schlug mir den Bauch mit Äpfeln voll. Das Paradies war für mich erst einmal geschlossen. So fühlt sich also Vertreibung an. Die Sauna und das Dampfbad taten mir sehr gut. Ich konnte entspannen und mich ein wenig sammeln. Ich bestellte mir noch Bratkartoffeln mit Kräuterquark und genoss jeden Bissen. Zuhause angekommen, war ich angenehm müde und konnte erstaunlich gut ein- und durchschlafen.
06. September 2025
Mein Hausarzt informierte mich, dass der Urologe weiterhelfen konnte und die Chefärztin der Urologie eines Krankenhauses über meinen Fall informiert worden war. Sobald er etwas Konkretes von ihr hören würde, gäbe er Bescheid. Tick, tock, tick, tock.
Das ganze Wochenende über hatte ich schöne Ablenkung mit Freunden und Familie und sog jeden Moment in mich auf. Ich war immer noch erstaunlich gefasst. Vielleicht auch ein wenig ignorant. Ich war wohl noch im Autopilotschutzundignorationsmodus.
07. September 2025
Am Sonntag schrieb mir mein Hausarzt, dass ich am Montag bereits um 13 Uhr einen Termin bei der Urologin im Krankenhaus hätte. Uff. Mir fiel ein Stein vom Herzen, und ich war sehr, sehr froh und dankbar, dass ich so schnell einen Termin bei ihr bekommen konnte. Babyschritt Nummer zwei.
Auch eine Schnecke kommt irgendwann mal ins Ziel.
08. September 2025
Ich holte meinen Hausarzt, mit dem ich schon seit fast 30 Jahren befreundet bin, in seiner Praxis ab, und wir fuhren gemeinsam zur Klinik. Das war eine sehr schöne und wichtige Unterstützung für mich. Meinen Koffer fürs Krankenhaus hatte ich gepackt und im Kofferraum verstaut. Gut fühlte sich die Vorstellung, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, nicht an. Korrektur: Es fühlte sich überhaupt nicht gut an. Für den Fall der Fälle bot mir mein empathischer Begleiter auch noch an, mein Auto wieder nach Hause zu fahren. Freundschaft ist die Fortsetzung der Familie mit eigenen Mitteln. Das empfand ich als sehr beruhigend.
Mit den sehr freundlichen Rezeptionistinnen der urologischen Abteilung wurde ich schnell warm, und die Anmeldung verlief wie im Flug. Wir nahmen im Wartezimmer Platz. Mit etwas Verspätung holte uns die Ärztin ab, und wir folgten ihr in das Besprechungszimmer. Sie wirkte in sich ruhend, vollkommen klar und angenehm neutral in ihren Erläuterungen. Ein sehr angenehmer Mensch. Auch sie bestätigte die MRT-Diagnose und besprach mit uns das weitere Vorgehen: eine 3-fach-Therapie aus Tabletten (ein Androgenrezeptor-Antagonist), Hormonspritzen (der Wirkstoff verringert die Produktion von Geschlechtshormonen – in meinem Fall Testosteron) und einer Chemotherapie (insgesamt sechs Zyklen im Abstand von jeweils drei Wochen). Zusätzlich sollte ich ein Medikament zur Behandlung von Osteoporose erhalten, da die Metastasen meine Knochen bereits in Mitleidenschaft gezogen hatten. Sie erläuterte mir ausführlich mögliche Nebenwirkungen der Therapie und fragte, ob ich noch etwas wissen wolle. Auf meine Frage, ob ich meinen Lebensstil ändern sollte, sagte sie:
„Vor mir sitzt ein 60-jähriger Patient, der topfit und eigentlich auch sehr gesund ist. Gleichzeitig sind Sie auch schwer krank. Vergessen Sie einmal kurz die Krebsdiagnose. Sie sind deshalb so gut in Form, weil Sie offensichtlich vieles richtig gemacht haben. Leben Sie bitte genauso weiter wie bisher. Um den Krebs kümmern wir uns.“
Ich hätte das gerne als Kompliment aufgefasst und wollte mich schon geschmeichelt fühlen, da wurden bereits weitere Maßnahmen für den nächsten Tag besprochen. Ich sollte am Dienstag eine Biopsie durchführen lassen, außerdem sollte ein Katheter zwischen der rechten Niere und der Blase gelegt werden – ein sogenannter Doppel-J-Katheter –, da die Niere bereits ein wenig gestaut und in ihrer Funktion eingeschränkt war. Das Karzinom hatte sich im Bauchraum schon deutlich ausgebreitet. Sie wünschte mir für den nächsten Tag und die beiden Eingriffe viel Erfolg, und wir verließen die Klinik.
Meine Krankenhausweste blieb also rein. Alle Behandlungen sollten ambulant erfolgen. Meinen Koffer konnte ich also wieder auspacken. Ein schwacher Trost, dennoch fühlte es sich in dieser Situation gut an. Wenigstens in den eigenen vier Wänden sein, Freunde treffen und lecker essen. Carpe diem bekam für mich eine völlig neue Bedeutung.
09. September 2025
Als ich 1988 das erste und bis heute einzige Mal im Krankenhaus verweilen musste, hatte ich das einer Knieverletzung zu verdanken. Wenn schon, denn schon, dachte ich mir wohl damals – und zog mir gleich eine vordere Kreuzbandruptur sowie Knorpel- und Meniskusschäden zu. Hockeyspielen war erstmal nicht mehr.
Etwa drei Tage nach der OP kam ein Assistenzarzt zu mir ans Bett und erklärte, er würde nun die Kniedrainage entfernen, da die Wundflüssigkeitsbildung aufgehört habe. Ich wartete auf die örtliche Betäubung, doch der nette Herr in Weiß hatte anderes im Sinn. Eine Lokalanästhesie sei nicht nötig, meinte er, es würde lediglich kurz etwas brennen, wenn er den Drainageschlauch aus meinem Unterschenkel ziehe.
Ich war mir ziemlich sicher, dass die Nervenfunktionen vorübergehend blockiert werden sollten, denn der Schlauch schien mir schon ziemlich fest eingewachsen zu sein. Ich hatte gutes Heilfleisch. Ihn interessierte das nicht. Mit einem kräftigen Ruck zog er die Drainage aus meiner unteren Extremität – und ich wurde kurz ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, verpasste ich ihm eine heftige Ohrfeige und fragte, ob er sie eigentlich noch alle hätte.
Rückblickend würde ich den damals empfundenen Schmerz heute auf der Schmerzskala bei 2–3 einordnen. Vor 37 Jahren war er jedoch eine glatte 10. Damals wusste ich noch nicht, was es bedeutet, an ein und demselben Tag sowohl eine Prostatastanzbiopsie nach einer Prostatakarzinom-Diagnose als auch eine Harnleiterschieneneinlage (DJ-Schiene) aufgrund einer Harnstauungsniere über sich ergehen lassen zu müssen. Wohlgemerkt: bei Lokalanästhesie.
Wie war das noch gleich? Nur die Harten kommen in den Garten.
Die begleitende Dokumentation mit dem Titel „Die schlimmsten Stunden meines Lebens“ hätte garantiert eine FSK-18-Einstufung und dürfte nur nach vorheriger Qualifikationsselektion angeschaut werden. Und ich versuche hier noch gnädig zu sein.
Ich erspare allen Lesern weitere Details, auch deshalb, weil ich befürchte, sonst diesen traumatischen Tag noch einmal durchleben zu müssen. Die Definition eines medizinischen Traumas: durch Gewalteinwirkung entstandene Verletzung des Organismus.
Fairerweise möchte ich an dieser Stelle betonen, dass alle Ärztinnen und Ärzte, Assistentinnen und Assistenten sowie alle Helferinnen und Helfer ihr Bestes gegeben und alles versucht haben, die Prozeduren so schmerzfrei wie möglich durchzuführen. Am Ende bin ich dankbar, dass beides gelungen ist. Für mich war das eine grenzwertige Erfahrung, die ich bitte nicht wiederholen möchte. Bitte, bitte, bitte, bitte, bitte …
Am späten Nachmittag wurde ich entlassen und durfte nach Hause. Die freundliche Rezeptionistin hatte großes Mitgefühl mit mir und gab mir eine Frei-Parken-Karte. „Aber pssst! Die sind sonst nur für Mitarbeiter“, flüsterte sie mir ins Ohr. Ich werde sie beim nächsten Mal umarmen. An diesem Tag war ich zu schwach.
10. September 2025
Um es im Social-Media-Sprech auszudrücken: Der Beziehungsstatus meiner neuen Harnleiterschienen-Freundin und mir war „kompliziert“. Da ich glücklicherweise all die Jahre ohne Ersatzteile im Körper ausgekommen war – na gut, der ein oder andere Zahnersatz mal ausgenommen – musste ich nun feststellen, dass mein Innenleben das auch gerne so beibehalten hätte. Der Katheter jedoch stand mit dem extra großen Salzstreuer am Herd und versalzte uns kräftig die Suppe. Die ersten Tage waren extrem unangenehm. Darüber hinaus dachte ich bei jedem Ziehen und Bewegungsschmerz sofort, dass „sicher“ etwas Schlimmes passiert sei. Der rot verfärbte Urin beim „Gang für kleine Prinzen“ machte die Angelegenheit auch nicht einfacher. Na ja, selbst wenn alles optimal, gut oder sogar sehr gut verlaufen sollte, hätten meine derzeitige Lebensabschnittspartnerin und ich ohnehin nur eine Kurzfristbeziehung. Der Katheter soll nämlich spätestens nach sechs Monaten wieder entfernt werden – diesmal dann definitiv unter Gabe von Propofol.
Nach der Biopsie war das Sitzen auf meiner Kehrseite ebenfalls nicht gerade die erste Wahl, und so klickte ich mich wenig lustvoll durch die Angebote für Druckentlastungskissen bei einem bekannten Onlinehändler. Dabei erinnerte ich mich an die Worte einer guten Freundin, die vor ein paar Jahren leider an Brustkrebs erkrankt war. Sie sagte, dass sie bis zur Biopsie des Tumors eigentlich recht guter Dinge gewesen sei, ihr jedoch in diesem Moment schlagartig bewusst geworden sei, wie krank sie nun wirklich war. Der Schmerz der Stanzung war auch für sie traumatisch. Das Beste zum Schluss: Ihr konnte geholfen werden, und sie gilt wieder als geheilt.
Genau dieses Gefühl hatte ich jetzt auch. Mir war plötzlich klar, wie sehr krank ich wirklich war.
Ich hatte zwei untersuchungsfreie Tage vor mir und ließ es mir im Rahmen der Möglichkeiten gut gehen: lecker frühstücken, die warmen Sonnenstrahlen genießen, Kompensationsshopping. Ich gönnte mir eine Thai-Massage und traf mich mit meinen Lieblingsmenschen zum Schnacken und Tratschen. Das Leben ist schön, wenn es schön ist. Am zweiten Abend nach meinem „11. September“ traute ich mich wieder in die Sauna. Das war wunderbar entspannend, und das kühle Nass des Außenschwimmbads war herrlich erfrischend und schmerzlindernd.
Am Freitag erwartete mich eine PET-CT-Untersuchung. Ich wollte ja schon immer mal auch von innen heraus strahlen. Ich sollte eine schwach radioaktive Flüssigkeit in die Armvene injiziert bekommen, damit sich das markierte Medikament in Geweben mit hoher Stoffwechselaktivität anreichert – wie beispielsweise in Tumoren – und so eine präzise Lokalisierung der Befunde ermöglicht.
Atomkraft – ja, bitte.
12. September 2025
Stadt, Land, Fluss. Zur PET-CT-Untersuchung musste ich nach Hochheim. Gut 32 Kilometer Landstraße, Felder, Natur. Alles sehr schön anzuschauen. Nach all den Jahren, die ich im Rhein-Main-Gebiet gelebt habe, wusste ich jedoch nicht einmal, dass es Hochheim gibt. Also tippte ich selbstbewusst „Frankfurter Straße 94, Hofheim“ in mein Navi – und los ging’s.
Irgendwie hatte ich allerdings eine Eingebung und schaute, während ich an einer roten Ampel wartete, noch einmal auf den Folder der radiologischen Praxis. Ähm, da stand: Frankfurter Straße 94 in Hochheim. Ups. Der Rechtsfreund liest bekanntlich immer bis zum Ende. Na ja, die generelle Richtung war ja schon mal richtig. Zum Glück war ich rechtzeitig und mit viel Zeit im Gepäck losgefahren, sodass der Umweg zu verschmerzen war. Ich kam 20 Minuten früher an.
Die Praxis hatte bereits alle meine Daten, und ich musste mein Autogramm lediglich unter ein paar Einverständniserklärungen setzen. Danach bekam ich vom diensthabenden Arzt eine Ablaufbeschreibung und wurde in ein Spezialwartezimmer gebracht. Eine sehr freundliche Mitarbeiterin, ausgestattet mit einem Personendosimeter, legte mir einen Venenzugang und verabreichte mir das Radiopharmakon. Die verabreichte Menge entspreche der Höhenstrahlung eines Nordatlantikflugs. Eine an sich gute Analogie. So richtig beruhigt hatte sie mich aber nicht, denn die medizinisch-technische Radiologieassistentin erklärte mir eindringlich, dass ich diesen Bereich nicht mehr verlassen dürfe, da ich sonst andere im Wartezimmer im Bereich der Rezeption kontaminieren könnte – speziell Schwangere. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was das dann für sie selbst bedeutete. So richtig zuträglich für die Gesundheit kann das sicherlich nicht sein. Das nächste Mal bringe ich meinen Geigerzähler mit.
Damit es mir nicht langweilig wurde und ich während der einstündigen Einwirkzeit des radioaktiven Arzneimittels auch in Bewegung blieb, verabreichte mir die MTR zusätzlich ein Diuretikum und bat mich, mindestens einen halben Liter Wasser zu trinken. Zum Glück war das stille Örtchen nur ein paar Schritte vom leicht radioaktiv verseuchten Wartezimmer entfernt. Mit meinen sieben Entwässerungen in 60 Minuten sei ich angeblich in die Top 10 aufgenommen worden. Ich lächelte erleichtert.
Die PET-CT verlief problemlos, und nach 30 Minuten durfte ich mich wieder ankleiden. Die Daten würden direkt an die Klinik übermittelt, und die Mitarbeiterin wünschte mir aufrichtig viel Erfolg bei meiner Behandlung. Damit hatte ich die vorerst letzte Untersuchung hinter mich gebracht. Am Montag stand das Abschlussgespräch in der Klinik an. Nun hatte ich das Wochenende, um mich ein wenig von den physischen und psychischen Strapazen der letzten zwei Wochen zu erholen. Meine Tankfüllung blinkte bereits auf Reserve.
13. September 2025
Vorfreude dot com war angesagt. Der gesamte Samstag war randvoll mit Begegnungen, Verabredungen und Gesprächen mit Menschen, die mir wichtig sind. Freunde, die zu Begleitern geworden sind. Weggefährten, die mir in den letzten Tagen ihre Herzen geöffnet hatten. Jetzt, da die unfassbare Anspannung der vergangenen zwei Wochen langsam von mir abfiel, wurde mir mit voller Wucht bewusst, wie außergewöhnlich dieses Netz aus Zuneigung, Wärme und Nähe ist, das mich trägt. Ich spürte tiefe Dankbarkeit. Und Liebe. Und den Trost, nicht allein zu sein. Das war überwältigend. Ich hatte zudem das unbeschreibliche Glück, in meinem Freundeskreis etliche Mediziner und medizinische Berater zu wissen. Nur dank ihrer Hilfe und ihres unermüdlichen Einsatzes war es überhaupt möglich, dass ich innerhalb von nur zwei Wochen von der ersten Computertomographie bis hin zum Abschlussgespräch und dem Beginn der Therapie gelangte.
Wie formulierte es Albert Einstein so treffend: „Ein Freund ist ein Mensch, der die Melodie deines Herzens kennt und sie dir vorspielt, wenn du sie vergessen hast.“
Ich legte mich zufrieden und liebe-voll ins Bett und begann, vor mich hin zu summen. La le lu.
14. September 2025
Da war er nun: mein Zusammenbruch. Im Französischen klingt das gleich viel eleganter und weniger dramatisch: rien ne va plus.
Der Sonntag begann sonnig und entspannt. Frühstück mit einem guten Freund: Rosinenzopf mit frischer Butter und aromatischem Kaffee. Wir übten uns im internationalen Frühshoppen mit zwei Journalisten aus 4 Ländern, und so ging es einmal quer durch den relevanten Themenwald. Von rien ne va plus war da noch keine Spur. Anschließend steuerte ich mein Lieblingscafé im Frankfurter Nordend an, bestellte einen Ingwer-Zitrone-Minze-Honig-Tee und beobachtete das gemächliche Sonntagstreiben. Alles war sehr relaxed.
Am Nachmittag fuhr ich in den Günthersburgpark, um einem guten Freund einen Besuch abzustatten. Eines seiner Kids feierte seinen Geburtstag nach und lud zum Spielen und Verweilen im Park ein. Ich sagte kurz Hallo und Happy Birthday und freute mich, alle wiederzusehen. Gerne wäre ich länger geblieben, doch plötzlich überfiel mich eine Welle aus Schwermut, Trübsinn, Wehmut, Niedergeschlagenheit, Bedrücktheit und Betrübnis – genau in dieser Reihenfolge. Ich kündigte kurz an, dass ich mich wieder verabschieden wollte, und tat das stilecht auf Französisch. Mein Freund bot an, mich noch bis zum Auto zu begleiten, und so schlenderten wir plaudernd durch den Park zum Parkplatz zurück. Mein melancholisches Gefühl hatte offensichtlich Gefallen an der Gesellschaft gefunden und machte es sich bequem. Sein Bedarf an Egozentrismus war offensichtlich noch nicht gedeckt.
Wir redeten über meine «hätte-durchaus-besser-sein-können»-Kindheit und über meine mittlerweile erwachsenen Kinder, als ich — kaum wahrnehmbar — meine Traurigkeits- und Kummerprotagonisten im Oberstübchen die Anweisung geben hörte: „Schleusen auf — Wasser marsch!“, oder so ähnlich. Wer jetzt wissen möchte, wie sich ein heulendes Elend anfühlt, darf mich gerne fragen. Ich bin seit dem der absolute Spezialist. Ich glaube, ich habe locker eine halbe Stunde durchgeheult und dabei sogar die allerletzte Träne aus mir herausgeholt. Ich konnte einfach nicht mehr. Das war alles zu viel. Viel zu viel. Das brachte mich auf die Knie. Ich bin froh, dass mein unglaublich empathischer Freund nicht unter Klaustrophobie leidet — so konnte ich ihn unentwegt umarmen und festhalten.
Danach ging es mir deutlich besser. Weinen: ein Stressabbau-Mechanismus, der Stresshormone aus dem Körper schwemmt und so zur Entspannung beiträgt.
So ist es.
15. September 2025
Ich traf pünktlich um 10 Uhr zur vorläufigen Abschlussbesprechung in der Klinik ein. Der Befund stand ja bereits fest; nun ging es um das weitere Vorgehen.
Mein neuer Therapieplan:
Es sollte jetzt richtig losgehen. Die Chefärztin entschied sich für eine sogenannte Triple-Therapie – der Krebs wird gleichzeitig von drei Seiten angegriffen. Sie erklärte mir alles sehr klar und ausführlich.
– Darolutamid (Tabletten): morgens und abends je zwei Stück. Die Tabletten blockieren die Wirkung von Testosteron – dem Hormon, das meinen Krebs füttert.
– Trenantone (Spritze): wird alle drei Monate verabreicht. Damit wird die körpereigene Testosteronproduktion nahezu vollständig heruntergefahren – sozusagen den Benzinhahn abdrehen.
– Docetaxel (Chemotherapie): ab dem 06.10. alle drei Wochen als Infusion und maximal 6 Anwendungen. Das Medikament wirkt direkt in den Zellen, verhindert ihre unkontrollierte Teilung und – hoffentlich – zerstört die Metastasen vollständig.
Parallel ging es auch um die Knochengesundheit, weil Metastasen Knochen instabil machen können und dadurch eine Bruchgefahr besteht. Vorgesehen sind:
– Denosumab (Prolia-Spritze): alle sechs Monate, damit die Knochen stabil bleiben.
– Täglich Calcium plus Vitamin D3 – sozusagen Knochenwiederaufbau-Futter.
Falls einzelne Metastasen besonders kritisch sind und die Stabilität gefährden, kommt zusätzlich eine gezielte Strahlentherapie in Betracht, um die betroffenen Knochen zu stützen.
Ich bekam noch ein Rezept für die Testosteronblocker sowie das hochdosierte Calcium plus Vitamin D3. Sie verabschiedete mich sehr herzlich und wünschte mir viel Erfolg. Den wünschte ich mir auch – und überlegte, ob ich meinen Krebs Napoleon Bonaparte nennen sollte, und um ihn gleich auf sein bevorstehendes Waterloo hinzuweisen. Gedanklich saß ich schon auf meinem arabischen Schimmelhengst und ritt zur Schlacht.
In diesem Fall war das allerdings erstmal nur der Ritt in die Apotheke um die Ecke, wo ich die beiden verordneten Medikamente kaufen wollte. Dort erklärte man mir, sie seien nicht vorrätig und ich solle bitte gegen 16 Uhr wiederkommen, um die Arzneimittel abzuholen. Man gab mir noch einen Abholschein mit. „48,50 €“ stand dort gut lesbar. Ich fragte, was die sechsstellige Zahl oberhalb des Betrags bedeute – die Abholnummer? Die Apothekerin betrachtete den Beleg und meinte beinahe nebenbei, das sei der Preis für den Testosteronblocker, und ob ich das später bar oder mit Karte zahlen wolle. Dort stand: 3.526,39 €.
Ich fragte sie, wer denn so viel Bargeld mit sich herumtragen würde. Sie sah mich an, als hätte sie die Frage nicht ganz verstanden.
Um 16 Uhr holte ich die verschriebene Medizin ab und nahm die ersten beiden Tabletten.
„Aux armes, citoyens!“
19. September 2025
Dienstag: Nichts
Mittwoch: Nichts
Donnerstag: Nichts
Freitag: Nichts
So darf das gerne weitergehen. Bis dato hatte ich keine Nebenwirkungen. Umso erfreulicher war die Beobachtung, dass sich das vergrößerte Lymphknoten-Ensemble oberhalb meines Schlüsselbeins merklich verkleinert hatte. Freu! Das ging erstaunlich schnell.
Am kommenden Montag standen dann die nächsten beiden wichtigen Termine an: morgens bei der Onkologin, nachmittags beim Urologen. Bei der Onkologin sollte es um die weitere Therapie und speziell die Chemotherapie gehen, beim Urologen um die wichtigste Säule meiner Dreifach-Therapie: die Trenantone-Spritze. Und tschüss, Testosteron.
Bis dahin vertrieb ich mir die Zeit mit schönen Dingen und war froh, wieder so etwas wie Alltag zu haben. Meine neue Routine hatte begonnen. Draußen Rennradeln war vorerst nicht mehr drin – die Gefahr eines Sturzes und einer damit verbundenen Fraktur war einfach zu hoch. Also wurde im Gym geradelt. Nicht ganz so abwechslungsreich, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. In die Sauna durfte ich dafür weiterhin gehen. Ein kleiner Schritt, noch ein kleiner Schritt – und noch einer.
So kommt man auch ans Ziel.
20. September 2025
Am Wochenende stand Modus Marie Kondo auf dem Programm. Ich hatte bereits Oma 1, Opa 1 und Oma 2 auf ihren letzten Metern fürsorglich begleiten dürfen – und durfte mich danach jeweils auch um deren verbliebenen Hausstand kümmern. Das war jedes Mal im sprichwörtlichen Sinne „Containern“. Und mit einem Entrümpelungscontainer von 10 m³ war es nie getan.
Der Durchschnittseuropäer besitzt laut Schätzungen rund 10.000 Gegenstände. Vor 100 Jahren kam ein Haushalt mit etwa 180 Dingen aus. Etwas weniger als heutzutage. Werden dabei eigentlich Messer und Gabel einzeln gezählt? Socken? Egal.
Ich bin in meinem Leben bereits 16 Mal umgezogen und hatte dadurch mehrfach Gelegenheit, mich von unnützem Ballast zu trennen. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Da es so aussah, als hätte jemand ein wenig an meiner Lebensuhr geschraubt, wollte ich schon mal damit beginnen, meinen Hausstand merklich zu verringern. Motto: „Weißt du, wofür Papa das gebraucht hat? – Was ist das eigentlich? – Ich glaube, das ist eine Schallplatte. – Ach, und was macht man damit?“. Also legte ich los und lichtete ein paar Schubladen. Ergebnis der ersten Session: nur noch 9.912 Gegenstände.
Dabei fiel mir ein, dass ich mich auch noch um mein Testament kümmern sollte. Meinen letzten Willen. Hatte ich überhaupt einen? Und natürlich auch eine Patientenverfügung sowie einen digitalen Nachlass, der den Umgang mit meinen Daten nach dem Tod regelt. Ja … das mache ich beim nächsten Mal. Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag erbaut. Übrigens: Rom wurde 753 v.Chr. gegründet. Am heutigen Rom wird also bereits seit 2.772 Jahren gebaut. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Mein notwendiger Papierkram konnte also auch noch ein paar Tage warten. Ich gesellte mich lieber wieder zu Marie und räumte weiter aus.
Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher ins Reich Gottes gelangt.
21. September 2025
Da mich bisher noch niemand gefragt hat, was der Titel meines Blogs eigentlich bedeutet, beantworte ich die Frage einfach selbst. In der englischen Übersetzung wird es übrigens auch nicht viel klarer: Ohnhoff despair lack of deception. Den Versuch, das DeepL-Ergebnis wieder zurück ins Deutsche zu übersetzen, spare ich mir gleich.
Ohnhoffverzweifenttäuschlosigkeit ist eine Wortschöpfung aus:
Ohnmacht
Hoffnungslosigkeit
Verzweiflung
Enttäuschung
Hilflosigkeit
Dieses Wort beschreibt genau das Gefühl, das ich empfand, als ich zum ersten Mal die niederschmetternde Diagnose am Telefon erfuhr. Aus dieser dunklen Ausweglosigkeit ist inzwischen immerhin ein zaghafter Sonnenaufgang geworden. Na gut – ich will nicht übertreiben. Sagen wir: ein paar vorsichtige Sonnenstrahlen am Horizont.
“Es werde Licht – und es ward Licht.”
Der Autor ist nicht wirklich bekannt.
22. September 2025
Auf der Therapieleiter ging es heute gleich zwei Stufen nach oben. Um 12:30 Uhr hatte ich den Besprechungstermin mit meiner Onkologin, eine Fachärztin für Krebs, und am Nachmittag fand mein Urologe noch ein Plätzchen im ausgebuchten Kalender. Er sollte mir die erste Hormonspritze verabreichen.
Mit der Onkologin besprach ich die anstehende Chemotherapie. Am 6. Oktober sollte es losgehen: Erst Blutabnahme, dann eine Stunde auf die Ergebnisse warten, anschließend etwa zwei Stunden Therapie – intravenös, direkt über die Armvene. Ich sollte mich darauf einstellen, dass ich an den beiden Tagen danach eher keine Bäume ausreißen könnte. Selbst Grashalme könnten zu viel sein. Aber: Schritt für Schritt würde es danach wieder besser gehen. Ich hätte ja dann drei Wochen Regeneration bis zur nächsten Sitzung.
Ich hatte mich in den letzten Tagen häufig mit meinen Medizinern und auch mit Betroffenen unterhalten. Die Entwicklung, die die Medizin in den letzten Jahrzehnten genommen hat, ist unfassbar. Auch wenn der Begriff eigentlich das Gegenteil ausdrücken soll, benutze ich ihn trotzdem: Das sind Quantensprünge – speziell in der Krebsbehandlung. Ein Toast auf den Fortschritt!
Um das Ganze mal mit einer Fußball-Analogie zu erklären: Früher war Krebs der FC Übermächtig (warum wollte ich reflexartig „FC Bayern“ schreiben?!). Ein Gegner, der unbesiegbar schien. Unsere medizinische Mannschaft war damals spärlich besetzt – ein einsamer Stürmer (Operation) und vielleicht noch ein Verteidiger (Strahlentherapie). Keine Auswechselspieler, keine Taktik, nur „lange Bälle nach vorne und hoffen“. Ein Hail-Mary-Pass auf dem Fußballfeld.
Heute sieht das anders aus: Auf dem Platz steht eine komplette Elf. Hormontherapie im Mittelfeld, die den Ballfluss des Gegners stoppt. Immuntherapie als quirliger Flügelspieler, der permanent nervt. Smarte Tabletten mit GPS als Spielmacher, der punktgenaue Pässe verteilt. Und wenn es sein muss, kommt die Chemotherapie als bulliger Innenverteidiger rein, der aufräumt – nicht elegant, aber kompromisslos effektiv. Ein echter Juan Antonio Goicoechea. Hieß der wirklich der Schlächter von Bilbao? Autsch.
Die Medizin hat also längst aus einer „Abwehrschlacht gegen den Abstieg“ ein Champions-League-Spiel gemacht. Klar, der Gegner bleibt stark. Aber er ist schlagbar – notfalls mit Verlängerung und Elfmeterschießen. Ich schnürte mir gedanklich schon mal die Fussballschuhe und prüfte die Stollen. In diesem Fall die aus Stahl.
Am Nachmittag wurde dann noch der Stürmer eingewechselt – sozusagen der Cristiano Ronaldo unter den Hormonspritzen. Meine Bauchdecke fragte mich zwar mit leicht schmerzverzerrtem Unterton, was das nun schon wieder soll, aber ich war einfach froh, dass damit der zweite und wichtigste Teil der Therapie gestartet war.
Zum Abschluss ging’s noch einmal zum Blutspendedienst – so hält man auch seinen milden Bluthochdruck etwas in Schach. Und um es gleich vorwegzunehmen: PSA 4,02 ng/ml.
Am frühen Abend erreichte mich die Nachricht, dass ich am Donnerstag einen Termin in der Radiologie hätte. Weniger erfreulich: Die Metastasen hatten meine beiden Oberschenkelhälse und den rechten Oberarmknochen doch deutlich in Mitleidenschaft gezogen. Man müsse rasch mit einer perkutanen Strahlentherapie gegensteuern, um das Risiko von Knochenbrüchen und weiteren Komplikationen zu verringern.
Gerade noch wollte ich alkoholfreien und leberschonenden Champagner entkorken, um meinen PSA-Wert zu feiern – da rauschte die Achterbahn schon wieder nach unten. Seit dieser Nachricht laufe ich ein wenig wie auf Watte. Und trainiere fürs Erste meine linke Hand.
25. September 2025
Um 9 Uhr saß ich in der Sprechstunde der Radiologin. Mit meinen Ärztinnen hatte ich wirklich großes Glück. Sowohl meine Hausärztin, meine Urologin, meine Onkologin als auch meine Fachärztin für Strahlentherapie waren Helferinnen, Beistand, Unterstützerinnen – und vor allem sehr gute Zuhörerinnen. Das gilt natürlich genauso für die männlichen Vertreter der Zunft, die in dieser schweren Zeit an meiner Seite stehen. Fortuna meinte es bislang sehr gut mit mir.
Am nächsten Dienstag stand also mal wieder eine Computertomographie an, und am darauffolgenden Tag sollte die Bestrahlung erfolgen. Über Abwechslung in meinem Terminkalender konnte ich mich wirklich nicht beklagen.
26. September 2025
Die meisten aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis wissen, dass ich mich schon seit Jahrzehnten vegetarisch ernähre. Irgendwann hatte ich damals die Schnauze voll. Ein Fleischskandal jagte den nächsten: Schweinepest, Salmonellenausbruch in industriell angelegten Hühnerställen, Massentierhaltung, BSE – auch als Rinderwahnsinn bezeichnet. Die Liste ließe sich endlos weiterführen. Erst verzichtete ich auf Fleisch, später ließ ich auch die Fische in Ruhe weiterschwimmen. Fun Fact: Einer der stärksten Menschen auf unserem Planeten ist Patrik Baboumian – und er ernährt sich sogar vegan. Soviel zum Thema Man muss Fleisch essen, um leistungsfähig zu sein.
Am Montag saß ich bei meiner Onkologin in der Besprechung, während sie mir mögliche Folgen der Chemotherapie erläuterte. Bei einer Chemotherapie kann es zu einem Eisenmangel und einer damit verbundenen Anämie (Blutarmut) kommen. Das könnte man allerdings mit Eisen- und Mineralpräparaten behandeln. Oder – ich sollte einmal die Woche ein gutes Stück Fleisch essen.
Mein Magenwächter schwenkte sofort die rote Flagge und erhob Einspruch. Nachvollziehbar. Ich muss ebenfalls ein wenig verdutzt dreingeschaut haben. Allerdings – eines muss man ihr lassen: Sie war humorvoll kreativ. Sie sagte: „Robert, Sie essen doch dann kein Fleisch, Sie nehmen lediglich eine Medizin zu sich.“
Chapeau!
Da fiel mir sofort wieder die Entstehungsgeschichte der Maultaschen (in Italien sagt man dazu Ravioli) ein. Ein findiger Laienmönch namens Jakob aus dem schwäbischen Kloster Maulbronn versteckte während der Fastenzeit Fleisch in Teigtaschen, um es vor dem Verzehr zu tarnen – und erhielt so den Spitznamen Herrgottsbescheißerle. Im Mittelalter, besonders während der Fastenzeit, war der Verzehr von Fleisch nämlich verboten.
Ich werde dann demnächst beim Italiener um die Ecke ein Bistecca alla Ferro bestellen und die Rechnung bei meiner Krankenkasse als Rezept einreichen. Meinem Pförtner der Feinkostverarbeitungsstation gebe ich dann an diesem Tag frei.
Und da ich einige Jahre in der Medizinfortbildungsfilmbranche gearbeitet habe (sind die Schachtelworte, die wir im Deutschen bilden können, nicht einfach klasse?), gingen mir das eine oder andere medizinische Wort leichter in den Gehörgang und in meine Sprachzentren als anderen, die mit dem Heilkundewortschatz eher weniger anfangen konnten. Pneumonoultramicroscopicsilicovolcanoconiosis klingt doch auch viel eindrucksvoller als einfach nur „eine Lungenkrankheit“.
Ich wollte endlich mal Ordnung in den Papierstapel aus Befunden, Analysen und Rechnungen bringen. Der Bürokrat in mir bat um Aufmerksamkeit. Dabei fiel mir auch der Befund der PET-CT-Untersuchung in die Hände. Diesem hatte ich bis dato noch keine Aufmerksamkeit geschenkt. Mit meinem medizinischen Duo-Lingo-Wortschatz kam ich allerdings nicht weiter und bat schwachsinnigerweise ChatGPT um Unterstützung. Hätte ich wohl besser bleiben lassen.
Hier die Antwort:
Die Knochen sind durch die Tumorherde so geschwächt, dass sie instabil werden. Das bedeutet ein hohes Risiko für Knochenbrüche (pathologische Frakturen), insbesondere an den genannten Stellen. In solchen Fällen empfehlen Ärzte oft eine operative Stabilisierung (z. B. Verplattung, Marknagel, Prothese) oder eine Bestrahlung, um die Stabilität zu verbessern und Schmerzen vorzubeugen. Bettruhe sollte in Betracht gezogen werden.
Motto: Wie versaue ich mir den Tag ohne Notwendigkeit. Mein Großvater pflegte zu sagen: “Wer lange fragt, geht lange irr.”
Allerdings war die bildhafte Darstellung der Radiologin auch nicht viel besser: „Hmm, wie kann ich Ihnen die Instabilität am besten erklären? Stellen Sie sich vor, Sie hätten an einigen Stellen in den betroffenen Knochen kleine Wattebällchen …“
Ich beschloss, mich bei mittlerer Temperatur ins Bett zu legen und zu warten, bis der letzte Schlag kommt.
27. September 2025
Ein kleiner Allgemeinbildungstest am Morgen: Wer ist „Schlafes Bruder“? Na? Und? Klingt zumindest schon mal wesentlich ohrenwohlwollender als „der Tod“. Der Tod und der Krebs (beide maskulin – vielleicht liegt es auch daran) sind in unserem Sprachgebrauch und in unserer Gesellschaft eher schlecht beleumundet. Der Krebs muss dann häufig auf den „rebs“ verzichten und wird auf das „K“ reduziert. Das K-Wort. Der Tod hat einen ähnlich schweren Stand. Wir vermeiden die drei Buchstaben und benutzen stattdessen lieber Umschreibungen wie: entschlafen, seine letzte Reise antreten, das Zeitliche segnen oder die ewige Ruhe finden. Warum heißt es eigentlich „über die Wupper gehen“? Wim Thoelke würde jetzt fragen: „Umschlag eins, zwei oder drei?“
Goethe sah den Tod als „Kunstgriff der Natur“, der das Leben ermöglicht, und beschrieb die Verliebtheit als „das angenehme Gefühl, als wenn man bei Sonnenaufgang stürbe“. Sokrates stellte die Frage, ob der Tod nicht das größte Geschenk überhaupt sei.
Die deutsche Übersetzung des Buchtitels von Ruth Picardie (im englischen Original: Before I say goodbye) lautet: „Es wird mir fehlen, das Leben“. Ich möchte diesen wunderschönen Titel für mich etwas modifizieren: „Es würde mir fehlen, das Leben“. Auch Christoph Schlingensief gab seinem Buch einen bemerkenswerten Titel: „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!“.
Ich saß vor ein paar Wochen mit meinem guten Freund und langjährigen Wegbegleiter wieder mal beim Frühstück, und wir podcasteten uns durch für uns relevante Themen. Aus aktuellem Anlass stand Schlafes Bruder auf dem Programm. Er hatte (wieder mal) einen unfassbar klaren Moment und gab folgende Analogie zum Besten:
Geboren zu werden und zu leben, ist wie auf eine Party eingeladen zu werden, die um 22 Uhr beginnt und um 6 Uhr morgens endet. Acht Stunden – stellvertretend für acht Jahrzehnte Lebenszeit, die wir im Schnitt haben. Er schaute mich mit einem Blick aus Dankbarkeit und Traurigkeit an und sagte: „… und du hast bereits bis um 4 Uhr morgens durchgetanzt und hattest bis jetzt eine absolut geile Party …“.
Er pauschalisierte weiter und erklärte, dass es keine Garantie dafür gäbe, dass die Lebensparty zwischen 4 Uhr und 6 Uhr morgens überhaupt noch gut sei. Den wahrscheinlich besten Teil der Veranstaltung hätten wir bereits hinter uns. Ein anderes Gleichnis von ihm: Die reguläre Spielzeit ist vorbei. Wir sitzen jetzt auf der überdachten Tribüne und genießen die Nachspielzeit. Eine kuschelige Decke auf den Knien, die Movie-Night-Giant-Popcorn-Box auf dem Schoß.
Vielleicht schaffen wir es ja ins Elfmeterschießen.
Hier mal eine (nicht ganz ernstzunehmende) Statistik für die letzten beiden Stunden der Party:
– 30 von 100 Personen landen irgendwann beim Orthopäden und entdecken, dass es neben der Brille auch andere hilfreiche Gelenk-Ersatzteile gibt.
– 20 von 100 Personen machen Bekanntschaft mit der Demenz-Lotterie.
– 15 von 100 Personen müssen lernen, dass das Wort „Hörgerät“ nichts mit Apple oder Bluetooth-Lifestyle zu tun hat.
– 40 von 100 Personen haben irgendwann den Clubausweis für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Tasche – Bonuspunkte für Bypass oder Stent.
– 25 von 100 Personen ziehen sich eine Krebserkrankung ins Lebensgepäck – nicht schön, aber die Medizin spielt mittlerweile Champions League.
– 50 von 100 Personen haben mindestens eine chronische Zipperlein-Baustelle: Diabetes, Bluthochdruck, Arthrose … die Klassiker eben, kurzweilige Themen fürs nächste Treffen mit Freunden.
– 30 von 100 Personen lernen, dass die Blase nachts nicht mehr so kooperativ ist wie früher.
– 100 von 100 Personen entdecken, dass das Wort „Rente“ nichts mit einer Luxus-Karibik-Kreuzfahrt zu tun hat, sondern mit einem neuen Volkssport: Warten – auf Arzttermine, Medikamente, Pflegekräfte, den Enkelanruf.
Und am Ende gilt: 100 von 100 Personen verabschieden sich – irgendwann, irgendwo, irgendwie.
„Wer müsste nicht erkennen, wie überflüssig er/sie trotz seltener Talente und großer Verdienste war, wenn er/sie bedenkt, dass er/sie sterbend eine Welt verlässt, die ihn/sie nicht vermisst, und wo sich viele finden, die ihn/sie ersetzen möchten?“
(Bruyère – gendergerecht modifiziert)
28. September 2025
Kognitive Dissonanz. Warum etwas mit einfachen Worten ausdrücken, wenn es auch komplizierter geht. Eigentlich müsste ich es sogar kognitiv-physische Dissonanz nennen. Zack – und schon wieder ein neues Schachtelwort. Dreifacher Wortwert beim Scrabble. Weiter unten mehr dazu.
Vor zwei Tagen erhielt ich eine sehr liebenswerte Nachricht vom Dach des Himalaya. Na ja, nicht von ganz oben, sondern aus Ladakh, bekannt für seine malerischen Bergpanoramen. Immerhin noch auf einer Höhe von gut 3.500 Metern. Meine Hausärztin urlaubte mal wieder durch die Welt. Gut so.
Das Wort „liebenswert“ sagt sich ganz schnell und einfach so dahin. Es bedeutet: wert, etwas zu lieben. Genau das war ihre Nachricht. Sie fragte mich, wie es meiner Seele gehen würde, weil diese gerne im Agieren der Schulmedizin vergessen wird, und sie fügte hinzu, dass ich – wenn es für mich möglich wäre – mich nicht krankreden lassen solle. Vor allem, wenn ich mich nicht krank fühle. Dazu schickte sie mir noch ein kurzes Video, das sich-im-Uhrzeigersinn-drehende tibetische Gebetsmühlen zeigte. Om mani padme hum. Dieses Mantra steht für universelles Mitgefühl und die Erlangung der Erleuchtung. Einfach liebenswert. Ich Glücklicher.
Womit ich wieder bei der Dissonanz angelangt wäre. Über drei Wochen nach der Erstdiagnose fühle ich mich ziemlich fit und gesund – den Katheter lassen wir mal außen vor. Vor 12 Tagen habe ich mit der ersten Therapiestufe begonnen. Vor 5 Tagen mit der zweiten. Keine Nebenwirkungen. Der PSA-Wert hat sich sehr verbessert und die geschwollenen Lymphknoten haben sich fast ganz zurückgebildet. Ich weiß zwar um die Bruchgefahr meiner Knochen, aber ich spüre nichts. Ich laufe wie auf rohen Eiern, und meine Schaltzentrale fragt mich die ganze Zeit: „Was machst du da und warum?“ Genau das fühlt sich so verrückt an. Dissonant. Die maximale Diskrepanz zwischen Kognition – also der Informationsverarbeitung in meinem Gehirn – und meiner körperlichen Empfindung. Irre.
Wenn man eine schwere Grippe hat, liegt man in der Regel mit erhöhter Temperatur im Bett, hat Gliederschmerzen und Kopfweh. Alles schmerzt. Man ist und man fühlt sich krank und hat zu nichts Lust. Ich fühle mich zurzeit wie vor fünf Jahren, als ich dreimal positiv getestet wurde und jedes Mal keine Symptome entwickelt hatte. Ich hatte damals positive Covid-19-Diagnosen, aber ich fühlte mich gesund. Ich habe heute eine Prostatakarzinom-Diagnose, aber ich fühle mich gesund. Das ist (fast nicht) zu verstehen.
Meine leitende Ärztin der Klinik sagte mir, dass ich nicht mehr geheilt werden könne, dass ich mich nun in palliativmedizinischer Betreuung befände. Verstanden – im logischen Sinne – habe ich das alles. Es fühlt sich allerdings so an, als wären meine Kognition und meine Physis nicht (mehr) verbunden. Körperlich, emotional kann ich dem logisch Berichteten (noch) nicht folgen.
Die Globetrotterin ergänzte noch, dass sie sich für mich freue, dass ich mich nicht krank fühle, und schrieb, das würde es jedoch für den Kopf nicht einfacher machen. Sie schloss mit: „Nimm’s als Geschenk.“ Happy birthday to me. Genau das werde ich tun.
Und hier auch noch, mal weil es so schön ist – als Lautschrift: [ˈaɪ̯nfax ˈliːbənsvʏʁt]
Love actually – actually love
Der wie-auf-Eierschalen-gehen-Modus eröffnete meinem sonst auf der Überholspur des Lebens fahrenden Schützen eine völlig neue Erkenntnis: die Entdeckung der Langsamkeit. Oder, um es noch klarer auszudrücken: meine Wahrnehmung änderte sich. Etwas wahr-nehmen – wieder so eine geniale Wortschöpfung. „Perzeption“ klingt dagegen eher wie eine trockene Fußnote im Beipackzettel. In den Worten eines englischen Schriftstellers: “Wie es Euch gefällt.”
Es gibt so ein paar Gewohnheitsstandards, die sich – warum auch immer – durchgesetzt haben. Früher war das am Sonntagabend: erst „Tatort“ um 20:15 Uhr und direkt im Anschluss “Sabine Christiansen” schauen. Muss man nicht verstehen. Bis heute hat sich die „Tagesschau“ gehalten. Auch fragwürdig. Ich liebe die deutsche Sprache – würdig, hinterfragt zu werden. In die Liste der „Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht“-Klassiker gehört auch der Film Love Actually. Eine feste Institution zur Weihnachtszeit. Das modernere „Dinner for One“. Der Film selbst: extrem leichte Kost. Man darf beruhigt einen Großteil der Großhirnrinde in den Feierabend schicken – der Film funktioniert eigentlich auch ganz ohne. Aber: die Anfangsszene hat mich schon immer sehr berührt. Hier meine freie Übersetzung des Off-Kommentars:
„Wenn mich mal wieder das Gefühl packt, dass die Welt komplett aus den Fugen gerät, denke ich sofort an die Ankunftshalle in Heathrow. Alle reden davon, dass alles nur Hass und Gier sei – aber ehrlich? Ich seh das anders. Liebe ist überall. Oft unspektakulär, manchmal chaotisch – aber immer da. Bei Müttern und Vätern, die ihre Kids abholen. Bei Paaren, die sich nach Monaten wiedersehen. Bei alten Freunden, die sich in die Arme fallen. Selbst am 11. September, als die Flugzeuge ins World Trade Center krachten – die letzten Anrufe waren keine Worte voller Wut oder Vergeltung. Es waren Worte voller Liebe. Und wenn man genau hinschaut, merkt man: Liebe ist wirklich überall.“
Während die Erzählstimme das wiedergibt, sieht man Menschen, die sich herzlich begegnen – liebevoll, glücklich, überrascht. Und während ich diese Szene auf YouTube anschaue und ins Deutsche übersetze, kommen mir die Tränen. Von wegen „Nur die Harten kommen in den Garten“ und „Männer weinen nicht“. Ab mit den Klischees in die Mottenkiste.
Die Entschleunigung bewirkt, dass ich meine Umwelt anders, genauer, intensiver wahrnehme. Brauchte ich früher fünf Minuten bis zum Supermarkt, benötige ich jetzt fast doppelt so lange. Anstatt aufs Handy zu starren, schaue ich mich um, grüße Menschen, die ich vorher nicht einmal bemerkt hätte, und nehme Augenblicke wahr, die früher an mir vorbeigehuscht sind. Kleine Szenen wie aus dieser Heathrow-Szene: Kassiererinnen, die sich herzlich begrüßen. Mütter mit ihren Kindern. Obdachlose, die versuchen ihren Alltag zu meistern. Früher habe ich das sicher auch gesehen – aber nicht wahrgenommen. Und das fühlt sich erstaunlich gut an.
In den Worten von Louis Armstrong: “And I think to myself – What a wonderful world”.
Wie heißt es so treffend: „Eine Kerze, die doppelt so hell brennt, brennt nur halb so lang.“ Ich pustete den zweiten Docht aus.
Nein, das ist keine Zeitlupe. Ich laufe jetzt wirklich so langsam.
29. September 2025
J. W. von Goethe – Dichter, Politiker, Naturforscher und bedeutendster Schöpfer deutschsprachiger Dichtung – soll auf dem Sterbebett gesagt haben: „Mehr Licht …“. Die gängigste Interpretation: Goethe bat seinen Diener, den Fensterladen zu öffnen, damit mehr Licht in das Sterbezimmer kommt. Er wünschte sich mehr Helligkeit.
Nicht wenige Frankfurter – die vom Main – sehen das etwas anders und vertreten die Meinung, dass er „Me lischt … hia so schlescht“ sagen wollte. Zu „hia so schlescht“ kam es dann bekanntlich nicht mehr. Für alle Nicht-Hessen bzw. Nicht-Frankfurter hier die Übersetzung ins Hochdeutsche: „Man liegt … hier so schlecht“. Ich tendiere zur Mundartversion. Nachvollziehbar. Wer will schon im Sterbebett liegen und sterben.
In der Disney-Plus-Miniserie „Dying for Sex“ – ins etwas holprige Deutsch mit „Sterben für Sex“ oder „Unbedingt Sex wollen“ übersetzt – bekommt die im Sterben liegende Molly von der Palliativkrankenschwester Amy erklärt, was passiert, wenn man stirbt.
Hinweis: Wem das zu viel ist, gerne beim nächsten Blogeintrag weiterlesen.
Hier die Übersetzung der Szene:
„Der Tod ist kein Mysterium. Er ist keine medizinische Katastrophe. Er ist ein körperlicher Vorgang, wie eine Geburt oder wie auf die Toilette gehen oder husten oder einen Orgasmus haben. Der Körper weiß, was zu tun ist. Der Körper weiß, wie man stirbt. Hier ist, was passieren wird:
Im letzten Monat des Lebens wird man nicht mehr aus dem Bett aufstehen. Man wird viel weniger essen und trinken und viel mehr schlafen. Delirium ist sehr häufig, und manche Menschen sagen, sie hätten das Gefühl, die Zeit würde aufhören, real zu sein. In den letzten zwei bis drei Wochen wird man bei allen täglichen Aktivitäten Hilfe brauchen. Der Körper weiß, was kommt, und geht in einen Zustand der Ketose über, der Hunger und Schmerzen verringert und das Gefühl der Euphorie verstärkt. Man fängt an, aktiv zu sterben.
Aktives Sterben ist eine heilige Zeit – zumindest war es das früher. Und in einigen Teilen der Welt ist es das immer noch. Es ist der Moment, in dem man dem Tod sehr nahe ist und der Körper beginnt, sich abzuschalten. Im Sterbeprozess ist man nicht mehr bei vollem Bewusstsein, und die Kiefermuskeln entspannen sich. Die Atmung verändert sich, und es kann zu einem gurgelnden Geräusch im Rachen kommen, das durch etwas verursacht wird, das als „terminale Sekrete“ bezeichnet wird.
Und wenn man dem Tod sehr nahe ist, geht die Atmung in einen Zyklus aus tiefen, langsamen Atemzügen und langen Pausen über. Und schließlich gibt es einen Ausatemzug, auf den kein Einatemzug folgt. Und das war’s dann.
Genau diesen Vorgang habe ich bei Oma 1 und Opa 1 miterlebt, als ich beide auf ihrem letzten Lebensabschnitt begleiten durfte.
Ich möchte gerne noch sehr lange darauf warten, bis dieser Vorgang bei mir eintritt. Ich habe es überhaupt nicht eilig. Gar nicht.
Hallo? Ich wünsche mir, dass mich alle gehört haben.
Postskriptum zum heutigen Tage
Für den Fall, dass die letzten Posts einen eventuell zu morbiden Unterton hatten, hier mal – zur Abwechslung – etwas Erfreuliches.
Bei aller zuvor beschriebenen Dissonanz: Ich fühle mich gut. Nach wie vor keine Nebenwirkungen. Zumindest keine bemerkenswerten. Meine Hobby-Hypochondrie bricht sich zwar weiterhin an unvorhergesehenen Stellen Bahn, aber was soll’s. Ich notiere brav jedes Ziepen, Zwicken, Brennen – und mache trotzdem genau da weiter, wo ich zuvor unterbrochen wurde. Offensichtlich produziert mein Körper sein eigenes Ritalin.
Gestern waren gute Freunde zu Besuch. Chef Roberto schwang den Kochlöffel und sang dazu „Smørrebrød, Smørrebrød, Röm Töm Töm Töm …“. Es gab Cocktailtomaten-Bruschetta, mexikanische Nachos mit Käse und frischem Oregano überbacken sowie grillfrische Käse-Tomaten-Sandwiches. An Chilis wurde nicht gespart – und so saßen wir alle mit leicht tränenden Augen am Tisch und fächelten uns Luft zu. Capsaicin unterstützt bekanntlich die Herzgesundheit, wirkt schmerzlindernd und entzündungshemmend. Genau das Richtige für den Patienten. Gesundwerden durch Nahrungsaufnahme. Die Schlussnote: ein Thermomix-Früchteschaumtraum aus gefrorenen Bananen und Erdbeeren. Der Zuckeranteil wurde aus gegebenem Anlass drastisch reduziert. God appetit, Röm Töm Töm Töm.
Unter den Gästen war auch eine bezaubernde junge Dame. Mehr Neugier und Energie mit lediglich 9 Jahren geht nicht. Sollte das Duracell-Häschen je ein neues Werbegesicht benötigen: voilà. Ich sollte ihr erklären, was mit mir los sei – denn normalerweise waren wir immer am Rumalbern und Herumtollen, inklusive „Ich-bin-eine-Spinne-und-laufe-kopfunter-an-der-Zimmerdecke-entlang“. Ich hoffe, ich habe es kindgerecht hinbekommen. Ich erzählte von einem Krebs in mir, der nur Unsinn im Kopf hat, mich ärgern und mir ein bisschen wehtun will. Es würde ein paar Monate dauern, aber dann – versprach ich – wird wieder herumgetollt.
Heute sah ich sie kurz wieder. Sie fragte mich: „Wie geht’s deinem Krebs?“
Spätestens in solch einem Moment muss man sich verlieben.
Carpe diem
Im Alltag – sprich, wenn wir uns wieder mal im Modus der Mehrfachaufgaben-Performanz befinden – ziehen viele Dinge unbemerkt an uns vorbei. Natürlich kann man artistisch den Milchkaffee-to-go in der linken Hand halten und gleichzeitig das Lenkrad steuern, während man seinen Lieblingssongs auf Spotify lauscht, die gerade erhaltene WhatsApp neugierig liest und mit der rechten Hand die Antwort tippt. Wenn man dann dem Vordermann hinten drauf fährt, funktioniert hoffentlich der Airbag. Die Antwort der allermeisten lautet: „Na klar bin ich multitaskingfähig!“ Herzlichen Glückwunsch.
Eine von mir gerne gestellte hypothetische Frage im Coaching lautet:
„Angenommen, das hier wäre der letzte Milchkaffee Ihres Lebens. Sozusagen Endstation Espressobohne. Danach ist Schluss, kein Nachfüllen, kein ‚noch einen kleinen Cappuccino, bitte‘. Nur diese eine Tasse. Wie würden Sie ihn trinken?“
Eine mögliche Antwort, stellvertretend für viele schöne Beschreibungen, die ich gehört habe, klingt dann so:
„Also gut, angenommen, das wäre mein letzter Milchkaffee … dann würde ich ihn bestimmt anders trinken als sonst. Normalerweise trinke ich den Kaffee eher so nebenbei, während ich schon Mails checke, gedanklich im nächsten Termin hänge oder telefoniere. Vielleicht würde ich die Tasse bewusster in die Hand nehmen, das warme Porzellan spüren und den Duft wirklich einatmen – nicht nebenbei, sondern so richtig. Wahrscheinlich würde ich auch viel langsamer trinken, jeden Schluck schmecken: die Mischung aus kräftigem Kaffee und sanfter, cremiger Milch sowie den leichten Schaum auf der Zunge. Das Bouquet aus Röstung und Hafermilch würde ich viel bewusster wahrnehmen. Wahrscheinlich würde ich mir sogar denken: ‚So schmeckt also mein letzter Kaffee.‘
Und während ich da sitze, würde ich auch meine Umgebung stärker wahrnehmen: den Blick aus dem Fenster, das Licht im Raum, vielleicht die Menschen, die mit mir im Café am Tisch sitzen. Ich glaube, ich würde einfach kurz innehalten und dankbar sein, dass ich das erleben darf.
Am Ende, wenn die Tasse leer ist, würde ich sie wahrscheinlich noch einen Moment in den Händen halten und die Wärme spüren. Nicht, weil ich noch mehr will, sondern um diesen Augenblick nicht sofort loszulassen. Es wäre ein ganz bewusster Abschied – und gleichzeitig ein Zeichen dafür, dass selbst so etwas Alltägliches wie ein Milchkaffee eine Bedeutung haben kann, wenn ich ihm Aufmerksamkeit schenke.“
Ich bin dann immer still und lasse das Gesagte wirken. Nach einer Weile sage ich dann: „Na ja, dann trinken Sie doch ab jetzt jeden Milchkaffee genau so.“
„Pflücke den Tag.“ Ich übersetze es für mich so: Danke sagen, dass der neue Tag da ist – und lächeln, weil mir noch einmal einer geschenkt wurde.
Cogito ergo sum
„Ich denke, also bin ich.“ Dieser berühmte Satz stammt vom französischen Philosophen René Descartes. Die meisten meiner Bekannten und Freunde würden diese philosophische Weisheit für mich wie folgt modifizieren: „Bicyclo, ergo sum.“ Das versteht sich dann ja von selbst.
Ich war mir nicht mehr so ganz sicher, ob meine fast zehnmalige Erdumrundung mit meinen Drahteseln tatsächlich das Richtige war. Hatte ich meine Vorsteherdrüse am Ende überstrapaziert? Ist das Radfahren schuld daran, dass ich mich jetzt in dieser Situation befinde?
Angeblich soll Winston Churchill ja gesagt haben: „Sport ist Mord.“ Eine andere Theorie: Diese Aussage ist möglicherweise eine deutsche Erfindung von Sportmuffeln. Ich tendiere in diesem Fall zu den Muffeln. Also begab ich mich in die Untiefen des Internets, vermied ChatGPT und begann zu surfen. Interessant, was man da alles zu lesen bekommt.
Hier die Kurzfassung meiner Recherche: Nein, fürs Prostatakrebs-Risiko gibt’s keinen belastbaren Beweis. Radfahren ist nicht als Ursache belegt. Große Übersichten und Fachquellen sehen keinen sicheren Zusammenhang – Bewegung bleibt sogar eher Schutzfaktor für das Gesamtpaket Gesundheit.
Was aber stimmt: Der PSA-Wert (prostataspezifisches Antigen) kann nach dem Radeln kurzfristig hochgehen. Wer direkt nach einer langen Ausfahrt Blut abnehmen lässt, kann einen scheinbar „auffälligen“ Wert kassieren – der sich schnell wieder normalisiert. In einer PLOS-ONE-Studie stieg das Gesamt-PSA bei Männern über 50 Jahren im Schnitt um ca. 9,5 % – gemessen binnen fünf Minuten nach der Tour. Die Empfehlung, die daraus resultiert: Vor einem PSA-Test mindestens 48 Stunden kein Radeln und keine Ejakulation. Das senkt den Fehlalarm. Also: weg damit in die Schublade.
Der Druck aufs Perineum (Damm) ist der eigentliche Punkt. Wer viel fährt, sollte ihn durch einen passenden Sattel, eine Polsterhose, eine gute Sitzposition und regelmäßiges Aufstehen aus dem Sattel reduzieren. Das hilft, Beschwerden vorzubeugen; mit Krebs hat das nach heutigem Stand nichts Kausales zu tun.
Und die „Mehr-Stunden- = Mehr-Risiko“-Theorie? Es gibt einzelne Beobachtungen mit deutlich mehr Diagnosen und Befunden bei Viel-Radlern (Testgruppe: 50 Jahre plus) – weil diese Gruppe sich auch häufiger checken lässt (sogenannte Detektions-Bias). Der PSA-Wert ist nach Belastung eher erhöht. Allerdings: Kein einziger Artikel rät vom Radfahren ab. Na dann …
„Veni, bicyclavi, vici.“
30. September 2025
Willkommen in der Menopause – und ich beziehe mich hier nicht auf die häufig übersehene und kaum wahrgenommene männliche Variante: die Andropause. Genau, dieses Wort hatte ich vorher auch noch nie gehört. Umgangssprachlich auch gerne Midlife-Crisis bzw. tempus Porschius genannt. Ja, ja, immer auf die Babyboomer.
Mit einem anderen Wort: Herbsterwachen. Obwohl – im Online-Frauengesundheitsportal sprechen sie von „der natürlichen Übergangszeit in der Lebensmitte“. Also dann doch eher: Sommererwachen. Sommereinschlafen? Egal. Heute, Ende September, macht die Übersetzung aus dem Griechischen ja dann auch komplett Sinn: „meno“ für Monat und „pausis“ für Ende.
Und: so viel zum Thema „keine Nebenwirkungen“. So fühlen sich also angeblich Hitzewallungen an. In meinem Fall waren das gestern Nacht allerdings eher Brennwallungen. Ein unter-der-Haut-Juckreiz. Ich hatte im ganzen Körper das Gefühl, unangenehm kurze, heiße Laserstrahlen zu spüren. Ein extrem unangenehmes Gefühl. An Weiterschlafen war nicht zu denken, und da ich nicht darauf vorbereitet war, lief meine Gedankendampflokomotive und offensichtlich auch meine Hormonumstellung auf Hochtouren. Da hatte ich mich wohl zu früh gefreut und bin erwartungsfroh hoch gefallen. Um es einmal nicht ganz so eloquent auszudrücken wie der biblische König Salomon mit seinem Originalzitat. Zack – da lag ich nun, auf dem Sofa. 3:30 Uhr. Der frühe Vogel fängt den Tofuwurm.
Um zu verstehen, was mit mir los war, las ich die Nebenwirkungen meiner Tabletten und der Hormonspritze. Hätte ich mal lieber sein lassen sollen. Ich gehe nicht in die Details, außer dass da überall zu lesen war: Schwere Nebenwirkungen: 1 von 10 Personen. Mittelschwere Nebenwirkungen: 1 von 10 Personen. Soll ich fortfahren? Zumindest war mir ein Top-10-Platz jetzt sicher. Es gibt Trophäen, die man wirklich nicht braucht.
Am frühen Morgen lag ich wieder mal im CT. Standardvorbereitungen für die Strahlentherapie, die morgen früh durchgeführt werden soll. „Nee, das dauert nur 5 Minuten …“, sagte der sehr freundliche Radiologieassistent. Nach knapp 30 Minuten spürte ich weder mein Steißbein noch meine Hände. Beide holten den nächtlich verlorenen Schlaf auf der fakirähnlichen Metalluntersuchungsliege nach. Allerdings half das kalte Metall beim Abkühlen meiner Menopausensymptomatik. Man muss alles immer ganzheitlich betrachten.
Obendrein gab es auch ein kostenloses Tattoo: symmetrisch angeordnete Punkte auf meinen Oberschenkeln und am Oberkörper. Damit gewährleistet man bei der Bestrahlung den exakten Ort der Metastasen. Also Referenzpunkte, um die Position des Patienten am Bestrahlungsgerät präzise einzustellen. Meine Einsicht nach der ersten Nacht mit Nebenwirkungen:
„Wenn Männer Kinder bekommen müssten, wäre die Menschheit schon ausgestorben.“ Und wenn alle Männer durch die Menopause gehen müssten … na, das überlasse ich gerne der Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser.
„Ein Hoch auf die Damen: Sie schenken das Leben, ertragen die Wechseljahre – und uns gleich mit.“
30.000
Wer 1964 in Deutschland geboren wurde, hatte folgende Lebenserwartung: Frauen ca. 73,35 Jahre, Männer ca. 67,66 Jahre. Wenn die damals Geborenen die vielen Jahre überlebt haben, in denen die Mortalitätsraten wesentlich höher waren als heute, kann ein Männchen heute realistischerweise gut 80 Jahre und ein Weibchen gut 85 Jahre alt werden – immer unter Berücksichtigung von Überlebenswahrscheinlichkeiten, Lebensform, Zugang zu medizinischer Versorgung und modernen Therapien. Im Schnitt also gut 30.000 Tage.
Mit meinen knapp 61 Jahren habe ich ergo bereits 22.265 Tageskalenderblätter vom Lebenscalendarium abgerissen. Und um im Partyzeitansagenmodus zu bleiben: „Beim nächsten Ton ist es: 4 Uhr – 6 Minuten – und 0 Sekunden – Biep!“ Ha, kann sich daran noch jemand erinnern? Ein Anruf bei der Zeitansage kostete damals 10 Pfennig. Und alles noch mit dem Wählscheibentelefon. Handys gab es damals nur bei Raumschiff Enterprise.
Mein Minutenzeiger hat also theoretisch noch fast zwei volle Runden vor sich. Die Divergenz zwischen Theorie und Praxis in Goethes Worten: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“ Oder mit den Worten von Franz Beckenbauer: „Schaun mer ma, dann sehn mer scho.“
Vor einiger Zeit hatte ich irgendwo folgenden Satz gelesen: „Älterwerden ist das Training für den Tod.“ Eine Metapher, die besagt, dass das Altern uns auf das Ende des Lebens vorbereitet und uns mit Vergänglichkeit und Sterblichkeit konfrontiert.
Ich glaube, gestern Nacht hatte ich eine erste zarte, flüchtige Begegnung mit meinem neuen Personal Trainer. Es fühlte sich auf dem Sofa liegend zumindest so an, als wolle er sich einfach mal vorstellen. Termine bzw. Trainingspläne wurden weder besprochen noch vereinbart.
01. Oktober 2025
„Unsere Kinder sollen lachen und nicht strahlen“ – so hieß der Slogan der Anti-Atomkraftbewegung in den 1980ern. Die Briten verwendeten die Tagline: „Children need smiles not missiles“. Auch nachvollziehbar. Da mir seit ein paar Wochen jedoch nicht so richtig zum Lachen war, begnügte ich mich heute früh mit dem Strahlen und begab mich in die nuklearmedizinische Radiologieabteilung. Nicht kleckern, sondern klotzen stand auf dem Programm. Den Metastasen-Wattebällchen sollte der Garaus gemacht werden. Ursprünglich eine Redewendung des Mittelalters, die das Ende des Tages und das Ende des öffentlichen Lebens markierte. Interessant, wie solch ein Ruf im Laufe der Zeit aus dem eigentlichen Kontext genommen und uminterpretiert wurde.
Interessant ist auch die Zeitwahrnehmung von Radiologen. Aus den fünf bis zehn Minuten, die für heute angesetzt waren, wurde eine Stunde. Auch der berühmte Fakir Musafa wäre heute an seine Grenzen gestoßen. Mal abwarten, wann ich mein Steißbein wieder spüre.
Bei der heutigen Bestrahlung wurde gezielt hochenergetische, ionisierende Strahlung auf meine Knochenmetastasen gerichtet. Die hauptsächlich verwendeten Photonenstrahlen schädigen vor allem die Krebszellen, weil diese sich ständig teilen und ausbreiten wollen – und nichts Gutes im Sinn haben. Gesunde Zellen in der Umgebung bekommen leider auch etwas Strahlung ab, können sich aber in der Regel wieder erholen.
Es ist schon faszinierend: Das Bestrahlungsgerät fährt über einen hinweg und trifft millimetergenau die markierten Stellen. Ziel der Behandlung: Schmerzen lindern und das Wachstum der Metastasen bremsen oder – am besten – ganz stoppen. Physik, die ziemlich zuverlässig wirkt. Da steht selbst der Robert mit staunendem Blick vor dem Linearbeschleuniger, auch CyberKnife genannt. Mann, bin ich froh und dankbar, dass heute 2025 ist.
Bei aller berechtigten Kritik am Homo sapiens: Einige Ergebnisse komplexer Wechselwirkungen verschiedener Hirnregionen unter der Regie des Großhirns sind wirklich atemberaubend. Also dann – mildernde Umstände bei der Gesamtbetrachtung der „weisen Menschen“. Es besteht Hoffnung.
So, in drei bis vier Wochen sollte eine Art Heilungsprozess eingetreten sein. Das bestrahlte Gewebe bildet sich zurück, und eine Narbenbildung entsteht. Zusammen mit der Chemotherapie, die nächste Woche beginnt, sollte ich in absehbarer Zeit wieder belastbarer werden. Im Moment bin ich ja ausschließlich im Handwaschgang ohne Schleudern unterwegs. Ich werde dann in ein paar Wochen die Unterlagen für den „Strongest Man“-Wettbewerb anfordern, ausfüllen und sicherheitshalber nicht abschicken.
Erstaunlich, wie zufrieden und glücklich man mit bereits wenigen Dingen sein kann. Mein hoffentlich nicht letzter Milchkaffee und ein ofenfrisches Croissant waren bereits bestellt, und ich ließ derweil ein paar warme Sonnenstrahlen über mein Gesicht gleiten.
Minimūm est plūrum.
Vermutung im Vergleich zu Wissen
Für einen Verstehen-Woller wie mich ist nicht verstehen können die maximale Kastigation. Ha – ich habe mal ein Wort benutzt, das nicht gleich so leicht ins Ohr und ins Wernicke-Sprachareal im grauen Oberstubenschwamm geht. Qual hätte ich genauso gut nehmen können. Hey, Artikel 5, Absatz 1.
Ein Optimist sieht in jeder Baustelle schon die fertige Autobahn und zerschneidet gedanklich das Eröffnungsband.
Ein Pessimist sieht im selben Moment nur den Stau, Schlaglöcher und dass das Benzin sowieso gleich alle ist.
Und ein Realist? Der steckt mitten drin, schaut auf die Uhr und sagt trocken: „So ist es halt.“
Ich liebe klares Sehen und vermeide Vermutungen. Ich bezeichne mich als Realisten. Zu 98,785% gelang mir das bis dato auch. Bis vor ziemlich genau vier Wochen. Eine Diagnose und all das damit verbundene Unwissen haben den langjährig aufgebauten Durchschnitt so richtig versaut. Gefühlt bin ich um 90 Prozentpunkte abgestürzt. Unfassbar, wie schnell das Kopfkino in den Endlosmodus schaltet und mit aller Macht versucht, Antworten und Erklärungen zu finden. Bezogen auf mein Befundverständnis saß ich sozusagen wieder in der Klasse 1A der Friedrich-Fröbel-Grundschule und versuchte meiner Klassenlehrerin zu folgen.
Ich hörte zwar „metastasiertes Prostatakarzinom“, aber verstanden habe ich „Quadraturamplitudenmodulation“. Also: gar nichts. Mein diensthabender Aufseher des Oberstübchens googelte derweil schon mal die Rufnummer des Bestattungshauses Nordend. Irgendwo aus dem Off hörte ich ihn noch sagen: „Ja, wir nehmen natürlich auch gerne das Blumenbouquet.“
Seit heute ist mein Wert wieder um einige Prozentpunkte gestiegen. Nach der Strahlentherapie hatte ich noch ein ausführliches Gespräch mit meiner Onkologin. Sie nahm sich Zeit, beantwortete meine Fragen, zeigte mir die Aufnahmen des CT vom Vortag und die Bilder des CyberKnife von heute. Ich sah zum ersten Mal die Metastasen und wo sie sich genau befanden. Sie erläuterte mir auch, dass die Kortikalis – also die äußere, stabile Schicht der Knochen – nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dass ich keine Schmerzen in diesen metastasierten Regionen hätte, sei ein gutes Zeichen. Außerdem hob sie hervor, dass mein tägliches Radfahren und Training mir jetzt zugutekomme, weil die ausgeprägte Oberschenkelmuskulatur ein starker Halt und eine Entlastung für die Knochen sei. In drei bis vier Wochen sollte eine Stabilisierung eintreten.
Das tat sooo gut. Endlich wieder ein wenig klares Sehen und Hoffnung. War ich am Ende doch ein Optimist?
Damit hatte ich die dritte Stufe der Therapie eingeläutet. In fünf Tagen dann Stufe vier: die Chemotherapie.
Es klingelte an der Tür meiner Kopf-Cloud. Ich nahm den Hörer der Gegensprechanlage in die Hand und fragte: „Ja, bitte?“ Am anderen Ende meldete sich wieder mal die Vermutung – sie hätte da ein paar Gedanken und bat um Einlass …
The Cyclone
Die berühmte Holzachterbahn The Cyclone, das Wahrzeichen von Coney Island, steht im Süden des Stadtbezirks Brooklyn in New York City, direkt an der Atlantikküste. Nach der Benutzung der Holzkonstruktion aus dem Jahr 1927 fühlt man sich anschließend ebenfalls wie fast 100 Jahre alt. Den Namen hat sie sich verdient: Der Wirbelsturm. Und dabei bezieht sich der Name des Fahrgeschäfts eigentlich nicht auf den Zustand der 33 Wirbel einer Wirbelsäule nach der Benutzung. Gleich neben dem obligatorischen Fotografen am Ausgang der Achterbahn steht übrigens auch ein Chiropraktiker.
Achterbahn war das richtige Stichwort. Kurz nach meinem gestrigen optimistischen Mini-Tsunami holten mich die Bedenken gleich wieder auf den Boden der Vermutungstatsachen zurück. War ich am Ende der Hummer aus einem meiner absoluten Lieblingscartoons? Hier mal der Versuch einer Beschreibung des Einbildwitzes.
Der Titel lautet: „Völlige Fehleinschätzung der aktuellen Lage eines Optimisten.“
Ein Hummer sitzt entspannt in einem Kochtopf, das Wasser brodelt fröhlich vor sich hin. Er schaut dabei erstaunlich zufrieden drein, fast so, als säße er nicht im Vorprogramm für die nächste Bouillabaisse, sondern in einem improvisierten Spa-Bereich mit Sprudelbad. Über ihm die Sprechblase: „Fehlen eigentlich nur noch die weiblichen Begleiter an meiner Seite …“
Am Abend bemerkte ich etwas vergrößerte Lymphknoten im Leistenbereich. Eventuell waren sie auch überhaupt nicht vergrößert – denn ich hatte mich seit Tagen keinem richtigen Selbst-Check-up unterzogen. Die letzten Tage war ich voll auf dem Lass-die-Therapie-mal-machen-Weg. Immer wieder bemerkenswert, wie einem dann solche Gedanken direkt in den Solarplexus des gerade erst erworbenen sonnigen Gemüts hauen können. Ein Schritt vorwärts. Ein Schritt zurück. Hatten die Lymphknoten etwas zu bedeuten? Verrichteten die Medikamente noch ihre Arbeit? Ich versuchte, in meinen Klares-Sehen-Modus zu wechseln und schrieb direkt meinem Urologen eine E-Mail. Ich bat höflich darum, morgen kurz mit ihm zu telefonieren.
Verunsicherung hat nur eins im Sinn: dass man sich unsicher fühlt. Sie sät Zweifel und Misstrauen. Das beste Heilmittel gegen dieses unnötige Aus-der-Fassung-Bringen: ein Gespräch mit jemandem, der sich auskennt. Fakten schaffen – und falls nötig weitere Untersuchungen durchführen lassen. Dem Kopfkino den Stecker ziehen.
Krankenschwester: „Herr Doktor, der Hypochonder aus Zimmer 12 ist gerade verstorben.“
Oberarzt: „Na, na, na, jetzt übertreibt er wirklich ein wenig.“
Ode an den Post-Homo-Erectus – 02. Oktober 2025
Der Vormittag fing schon mal vielversprechend an. Die freundliche Assistentin des Urologen hatte meine E-Mail umgehend beantwortet und mir einen Termin für morgen früh um 9 Uhr organisiert. Sich sehen sei besser als nur zu telefonieren. Ich stimmte dem zu, und mein Durchblicken hatte sofort wieder etwas Oberwasser und schob die quengelnde Vermutung ein wenig aus dem Blickfeld.
Zudem rief mich mein guter Freund und Radiologe an und fragte nach meinem Befinden. Ich erzählte ihm von den radiologischen Neuigkeiten des Vortags und dass ich seit seinem Erstbefund vor genau einem Monat von den 30 vergangenen Tagen 26 gute und 4 graduell schlechtere Tage hatte. Freudig gestimmt sagte er: „Das sei doch ein richtig guter Schnitt.“ Gepaart mit meiner guten körperlichen Gesamtverfassung und dem Ausbleiben größerer Nebenwirkungen sei das alles eine sehr positive Entwicklung.
Wir unterhielten uns dann auch noch über CTs, MRTs und das CyberKnife, und ich gestand ihm, wie beeindruckt ich von dem medizinischen Fortschritt und den heutigen Behandlungsmöglichkeiten war. Bauklötze staunen – im Original aus dem Berliner Dialekt: „Glotzen machen“ – reicht da bei weitem nicht aus.
Er beschrieb mir, wie ein MRT grundsätzlich funktioniert. Ha – WIE kommt man auf so etwas, und WER hat sich derartiges ausgedacht? Gedanken können also durchaus nützlich und sinnvoll sein. Das ist alles schlicht sensationell und einfach großartig. Ganz großes IMAX-Kino.
Ich versuche mal, seine Erläuterung hier wiederzugeben:
Im MRT steckt ein Magnet, der es in sich hat: typischerweise 1,5 bis 3 Tesla stark – das ist etwa 30.000- bis 60.000-mal stärker als das Erdmagnetfeld. Dieser Magnet zwingt die Wasserstoffatome im Körper (und davon haben wir reichlich, weil wir zum größten Teil aus Wasser bestehen), sich alle in die gleiche Richtung auszurichten. Die Atome verhalten sich nämlich wie winzige Magnetnadeln – normalerweise zeigen sie kreuz und quer, im MRT allerdings schön in Formation. Dann werden kurze Radiowellenimpulse gesendet. Die „stupsen“ die geordneten Atome an, die dadurch aus der Reihe tanzen. Sobald der Impuls endet, springen sie wieder zurück in ihre ursprüngliche Ordnung – und genau in diesem Moment senden sie messbare Signale. Diese Signale fängt das Gerät auf, der Computer rechnet daraus millimetergenaue Schnittbilder: Knochen, Organe, Muskeln, Flüssigkeiten, Tumoren – alles Schicht für Schicht.
Der Magnet im MRT ist so stark, dass er einen samt Schlüsselbund und Handy in der Hose direkt an die Röhre tackern würde – wenn man nicht vorher alles schön ablegt. Genau deshalb der ganze Sicherheitszirkus vor der Untersuchung.
Heute Abend zünde ich eine Kerze an und texte Beethovens Ode an die Freude ein wenig um. Hier schon mal die ersten Zeilen:
Homo sapiens, Götterfunke,
Ärzte aus Elysium,
Wir betreten hoffnungstrunken
Euer weißes Heiligtum.
03. Oktober 2025
35 Jahre Deutsche Einheit. Wohlsein. Ich weiß noch genau, wo ich am Tag des Mauerfalls war und was ich gerade gemacht habe, als am 9. November 1989 um 23:30 Uhr der Grenzübergang an der Bornholmer Straße überraschend geöffnet wurde. Ich saß vor dem Fernseher. So geht friedliche Revolution.
Ich weiß ebenfalls noch ganz genau, was ich am 11. September 2001 gemacht habe, als am frühen Nachmittag die ersten Bilder der World Trade Center auf n-tv gesendet wurden. Ich saß wieder vor dem Flimmerkasten. Es war ein Dienstag.
Auch der 2. September 2025 ist für mich nun auf meiner Festplatte eingebrannt. Allerdings saß ich an diesem Dienstag mal nicht vor der Mattscheibe. Fast genau 24 Jahre nach den Terroranschlägen hatte ich vor einem Monat jedoch wieder das exakt identische Gefühl wie damals: Das war’s! Um es – etwas modifiziert – mit den berühmten Worten von Andy Möller zu sagen: „Ich hatte vom Feeling her ein scheiß Gefühl.“ Von ihm stammt übrigens auch die brillante Erkenntnis: „Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien.“ Wäre mir in diesem Moment allerdings ebenfalls egal gewesen.
In dem Film Interstellar gibt es die berühmte Szene auf Miller, einem Wasserplaneten ganz nah am gigantischen Schwarzen Loch Gargantua. Weil die Gravitation Zeit dehnt (Einsteins Relativitätstheorie), vergeht die Zeit dort viel langsamer als für alle anderen weit weg vom Schwarzen Loch. Für Cooper, den Piloten, und seine Crew fühlt es sich so an, als seien sie nur ein paar Stunden auf Miller. In Wirklichkeit vergehen für ihren Kollegen Romilly, der draußen im Mutterschiff wartet, über 23 Jahre.
Ungefähr so fühlten sich für mich die letzten Tage an. Während der lediglich 768 Stunden seit dem Befund (also auf meinem Planeten Miller) habe ich emotional nochmal mein gesamtes Leben durchlebt (quasi wie Romilly im Raumschiff). Gut fünfhundertdreißigtausend Stunden. Genauer gesagt: mir fielen im Schnelldurchgang schöne, lustige, bemerkenswerte und liebenswerte Momente ein, die ich – auch und vor allem mit anderen – erlebt hatte. Eine Erinnerung ergab die nächste. Meine Memory-Kiste wurde kräftig durchgeschüttelt und längst Verschollenes ans Tageslicht gebracht. Schön war’s. Sehr schön. Ich war am Dauergrinsen. Eine wunderbare Beschäftigung, wenn mal wieder nichts Gescheites im TV oder bei den Streamingdiensten läuft.
Mein Reminiszieren kramte ebenfalls ein Buch, das ich gelesen hatte, wieder ins Bewusstseinsrampenlicht: Chasing Daylight von Eugene O’Kelly. Der Autor, ein erfolgreicher CEO, erhielt mit 53 Jahren die Diagnose unheilbarer Hirntumor. O’Kelly beschreibt, wie er sich bewusst verabschiedete: von seinem Job, von Terminen und von seinen liebsten Menschen. Er verabschiedete sich nicht mit Trauer oder Grummeln, sondern mit Dank. Er beschreibt, wie er seine Kontakte – vom äußeren Bekanntenkreis bis hin zum innersten Zirkel der engsten Freunde und Familie – bewusst aufsuchte, um sich für die außergewöhnlichen gemeinsamen Momente zu bedanken. Keine langen Abschiedsreden, kein Drama. Einfach ehrliche, klare Worte: Danke, dass du Teil meines Lebens warst. So machte er das Unausweichliche zu einem Akt der Wertschätzung – und verwandelte das Ende in viele kleine, leuchtende Augenblicke.
Das ist die exakte Beschreibung dessen, was wir haben: Das Leben besteht aus Momenten, Augenblicken. Das Hier und Jetzt. Wir sammeln keine Punkte oder erhalten am Ende dafür ein Extraleben. Es gibt keinen Endgegner zu besiegen und auch kein finales Level. Möglichst viele (wunder)schöne Momente erleben zu dürfen – das ist die eigentliche Herausforderung.
In ihrem Buch 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen beschreibt Bronnie Ware, was am Ende wirklich zählt. Auf dem Sterbebett, wenn klar wird, dass das Leben sich dem Ende zuneigt. Sie begleitete Sterbende in den letzten Wochen ihres Lebens. In ihrem Buch erzählt sie von wunderbaren Begegnungen und berührenden Gesprächen – und davon, dass die Menschen, die sie traf, viel zu oft feststellen mussten, dass sie ihre eigenen Wünsche hintenangestellt hatten.
Hier ist ihre Liste:
- „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.“
- „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.“
- „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.“
- „Ich wünschte, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.“
- „Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.“
Das spricht dann für sich selbst. Frohes Fest.
Figaro
Da ich inzwischen wie ein Langhaardackel aussah, trieb es mich nach Monaten wieder mal in die Arme meines Coiffeurs. Sprichwörtlich. Dominique war spät dran und so vertrieb ich mir die Wartezeit mit einem leckeren Earl-Grey-Tee aufs Haus – und mit seinem Hund Nico. Ein Italian Greyhound. Der friert auch bei 32 Grad im Schatten. Kaum sitze ich auf dem Stuhl, liegt er auf meinem Schoß. Mit meinem Schützen im Sternzeichen und dem Drachen im chinesischen Tierkreis bin ich also so etwas wie ein Heizkissen für den extrem kurzhaarigen Wauwau. Im Winter in New York City würde er auf der Stelle schockerfrieren.
Während wir uns auf den neuesten Stand brachten, bemerkte Dominique, dass mein Haar zum Teil einen ganz leichten Gelbstich hätte – und ihm das bis dato noch nie aufgefallen sei. Er fragte mich, ob ich denn neuerdings rauchen würde. Das konnte ich mit bestem Gewissen verneinen. Also entschloss ich mich, ihm von meiner Diagnose zu erzählen, und mutmaßte, dass eventuell die begonnene Therapie bzw. die ganzen CTs, MRTs, PETs und die Strahlentherapie die Verursacher sein könnten.
Auf der nach oben offenen Betroffenheitsreaktionsskala all meiner geduldigen Zuhörer und Blogleser – von A wie Atemaussetzer bis Z wie Zerknirschung – wurde das „U“ heute durch Dominique umklassifiziert. Das ursprüngliche U wie Unbehagen ersetzte er nonchalant durch: „Und sonst? Was gibt es sonst so Neues?“
Wie geil ist das denn? Nachdem ich ihm von meiner Krebsdiagnose erzählt hatte, sagte er kurz und trocken: „Ja, mein Mann hat auch Prostatakrebs.“ Und fügte eher beiläufig hinzu: „Aber sieht ja so aus, als würde ich die Therapie gut vertragen.“ Herrlich. Ich war wieder in der Normalität angekommen.
Ja, ich habe Prostatakrebs – und sonst?
AFMH & R
Das fröhliche Wesen in mir übernahm die Regie und saß mal wieder am Lenkrad – besser gesagt: hinter dem Lenker. Diesmal allerdings nicht auf dem Stahlross im auf 14 Grad heruntergekühlten Gym mit unerträglicher Reggaeton-Dauerberieselung, sondern auf einem echten Fahrrad und ohne Stützräder. Der Übermut machte sich breit und ich fuhr die 4,8 Kilometer von meiner Höhle bis zur Abteilung für männliche Hydraulik & Rohrleitungstechnik mit meinem Stadtradl. Die neue – bzw. wiedergewonnene – Freiheit. Allerdings ausschließlich auf den dafür vorgesehenen Fahrradwegen. Schließlich stand ich noch immer unter dem Eindruck der Knochenmetastasen und der damit verbundenen Bruchgefahr. Rabiate Autofahrer konnte ich da nicht gebrauchen.
Ich gebe es ungern zu, aber die grün- und rotgestrichenen Fahrbahnen habe ich bis dato gemieden wie Politiker klare Antworten. Die Restarroganz in mir wollte gerade anfangen, deswegen mit mir herumzudiskutieren, da waren wir schon da. Das ging flotter als gedacht. Mein Hochmut hielt daraufhin die Klappe.
Um 9 Uhr war wieder einmal ein Untersuchungstermin angesetzt. So kurz vor meiner ersten Chemo wollte mein Urologe mich noch einmal genau unter die Lupe – also unter den Schallkopf – nehmen. Alles war in guter, neuer Ordnung. Der Katheter verrichtete seine Arbeit, die rechte Niere war dadurch entlastet und nicht mehr gestaut. Das Ersatzteil und ich werden allerdings keine sehr guten Freunde mehr. Umso froher war ich zu hören, dass mein Doc das Teil in ein bis zwei Monaten entfernen wollte – wenn sich alles im Bauchraum durch die Hormontherapie und Chemo zurückgebildet hat.
Wir sprachen auch über eine mögliche Entfernung der Prostata, sozusagen der Krebsquelle. Allerdings passiert dies frühestens im nächsten Frühjahr, wenn ich mich wieder komplett von der Zellstoppertherapie erholt habe. Er gab mir außerdem den Tipp, mir ein Kühlgel-Set für die Chemotherapie zu besorgen – Handschuhe und Schuhe –, um mögliche Schmerzen in Händen und Füßen zu lindern. Das könne eine Neuropathie und Nebenwirkungen wie Taubheit, Kribbeln, Schmerzen oder Muskelschwäche in Fingern und Zehen verhindern oder zumindest abschwächen. Die farblich abgestimmte Eiskappe für die noch echten Haare auf meinem Kopf habe ich gleich mitbestellt. Sollte ich die Chemo überleben, wird als Todesursache auf dem Totenschein wohl „Erfroren“ stehen.
Vielleicht kommen mir ja jetzt die fast elf Jahre New York City zugute. Von Dezember bis März lautete das Motto: Bo-frost-Radeln – bei dauerhaften Minustemperaturen. Mein persönlicher Rekord: gefühlte minus 27 Grad Windkälte – auf der Brooklyn Bridge und über dem halb zugefrorenen East River.
F(rob)sty, the snowman.
Be-merkens-wert
Es gibt Situationen (siehe oben), die vergisst man einfach nicht. In grauer Vorzeit, als ich als junger Mann den Frankfurter Stadtteil Bornheim unsicher machte, verschlug es mich in die Postfiliale in der Saalburgallee. Warum auch immer – wahrscheinlich zeigen sich jetzt schon erste Anzeichen von preseniler Demenz – ich musste ein Paket verschicken. Ich hatte zuhause alles vorbereitet: den Empfänger, den Absender und das Wort „Zerbrechlich“ mehrfach in Schönschreibkunst auf das Paket geschrieben und das Ganze mit 17 Metern Klebeband gesichert. Am nächsten Tag machte ich mich in der Firma etwas früher und unbemerkt aus dem Staub, um rechtzeitig im Postamt zu sein. Nichts geht über perfekte Zeitplanung.
Um 17:50 Uhr stand ich fast am Schalter. Die einzige Person vor mir wollte lediglich Briefmarken kaufen. Weiß hier noch jemand, wofür man die benötigt? Und was kostet heute eigentlich ein Standardbrief? Egal. Drei Minuten später war ich an der Reihe. Ich wuchtete das Paket auf den Tresen und fragte den freundlichen Postbeamten, was der Versand kosten würde. Er fragte nach dem Paketschein und einer Zollinhaltserklärung, falls das Paket ins Ausland ginge. 17:54 Uhr.
Ohne ging nichts. Ich musste eine ausfüllen. Er gab mir ein Warensendungsbeförderungsformular und bat mich, es vollständig auszufüllen. 17:55 Uhr. Die Kalligrafie entließ ich vorzeitig in den Feierabend und kritzelte in Windeseile die notwendigen Angaben auf das Formular. 17:59 Uhr …
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie der nun nicht mehr ganz so freundlich dreinblickende Postbedienstete in den hinteren Teil des Paketannahmeraums ging – und das Radio lauter drehte. Gerade als ich das Paket samt ausgefülltem Dokument hochhob, tönte es aus dem Lautsprecher:
„Guten Abend, meine Damen und Herren, hier ist der Hessische Rundfunk – es ist 18 Uhr.“
Perfekt. Ich stand pünktlich vor dem Schalter. Genau das war das Schlüsselwort: pünktlich. Der inhäusige Brief- und Paketträger sagte nur ein Wort: „Feierabend.“ Und während er das nicht gänzlich ohne Genugtuung und mit einem Hauch von Schadenfreude sagte, zog er das Gitter herunter und verließ den Paketraum. Es gab in meinem Leben wirklich nicht viele Personen, die mich sprachlos zurückgelassen haben. Vielleicht gibt es ja noch einen Grund, warum heute kaum noch jemand Briefe schreibt.
In den letzten knapp fünf Wochen habe ich einige weitere bemerkenswerte Aussagen vernommen. Hier die wichtigsten, die mein Leben verändert haben – und liebevolle Hilfestellung waren:
– Ich habe jetzt erstmal eine Flasche Wein getrunken bevor ich Dich anrufen konnte …
– Vor mir sitzt ein 60-jähriger Patient, der topfit und eigentlich auch sehr gesund ist. Gleichzeitig sind Sie auch schwer krank. Vergessen Sie einmal kurz die Krebsdiagnose. Sie sind deshalb so gut in Form, weil Sie offensichtlich vieles richtig gemacht haben. Leben Sie bitte genauso weiter wie bisher. Um den Krebs kümmern wir uns.
– Sie fragte mich, wie es meiner Seele gehen würde, weil diese gerne im Agieren der Schulmedizin vergessen wird, und sie fügte hinzu, dass ich – wenn es für mich möglich wäre – mich nicht krankreden lassen solle. Vor allem, wenn ich mich nicht krank fühle.
– Sie erläuterte mir auch, dass die Kortikalis – also die äußere, stabile Schicht der Knochen – nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dass ich keine Schmerzen in diesen metastasierten Regionen hätte, sei ein gutes Zeichen.
– Und sonst? Was gibt es sonst so Neues?
– Umso froher war ich zu hören, dass mein Doc das Teil in ein bis zwei Monaten entfernen wollte – wenn sich alles im Bauchraum durch die Hormontherapie und Chemo zurückgebildet hat.
„Worte sind die Medizin der Seele.“
– Sokrates
Rückblenden-Nostalgiepfad – 5. Oktober 2025
Da ich ohnehin gerade auf der Erinnerungsstraße hin und her lief, machte ich einen gedanklichen Zwischenstopp im Jahr 1988. Genauer gesagt: im November. Für alle Genauwissenwoller: Samstag, der 12. Noch so ein Datum, dass sich mir eingebrannt hat.
Ich spielte bereits seit 14 Jahren Hockey, aber irgendwie konnte ich meinen besten Freund damals nie überreden, mir und meinem Team mal zuzuschauen. Gute Dinge brauchen eben Zeit. Er sagte schließlich zu – ich freute mich – und tatsächlich: Er erschien rechtzeitig zum Anpfiff. Zehn Minuten später wurde ich vom Notarzt in die BG-Unfallklinik gefahren. Verdacht auf Kreuzbandriss. Ich hörte ihn noch sagen: „Ah, so geht also Hockey.“ That’s what friends are for.
Der Verdacht wurde bildgebend erhärtet, und die freundlichen Mitarbeiter des Hospitals behielten mich gleich dort. Zweibettzimmer war angesagt – und ich teilte die Rekonvaleszenzkammer mit einem älteren Herrn. Die OP am nächsten Tag verlief ohne Komplikationen, und am Tag darauf durfte ich schon wieder Besuch empfangen. Am Tag des Eingriffs selbst lag ich allerdings noch recht mitgenommen und post-spinal-anästhesiert in meinem Bettchen – 24 Stunden später war mein Ego wieder komplett anwesend und machte einen auf Unteroffizier.
Wir riefen Freunde, Bekannte und Familie an und nutzten sie als improvisierte Lieferservicemitarbeiter – Lieferando gab es damals noch nicht. Ich wollte meine Gitarre, Lektüre und meinen CD-Ghettoblaster. Ein furchtbares Wort. Heute heißen die Dinger Boomboxen – auch nicht viel besser. Ich lehnte das Krankenhausessen rundheraus ab und organisierte mir zusätzlich eine 24/7-Versorgung. Mehr Egozentrismus ging nicht. Nikolaus Kopernikus und Galileo Galilei lagen damals zumindest ein bisschen falsch: Die Erde drehte sich nicht um die Sonne. Ich war in diesem Moment der Mittelpunkt. De revolutionibus orbium robertium.
Zwei, drei Tage später bemerkte ich dann meinen Zimmernachbarn. Bis dahin war er still – was anderes blieb ihm ja auch nicht übrig. Mein Zweitwohnungsequipment und die sich die Hände gebenden Robert-Besucher sorgten für durchgehende Unterhaltung und entsprechenden Lärmpegel. Wir kamen ins Gespräch, weil ich bemerkte, dass er nach einem Arztgespräch recht niedergeschlagen wirkte. Mein Ego ließ offensichtlich noch ein Stück Restempathie zu. Erstaunlich.
Mein Bettnachbar hieß wie ein sehr bekannter deutscher Dichter. Und da ich hier gerade Memory mit meinem Blog spiele, fiel mir wieder ein, dass ich ein Gedicht dieses besagten Schriftstellers einmal auswendig lernen musste:
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum.
Ein Anblick grässlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.
Warum hat sich mein Gehirn das gemerkt?
Zurück zu seinem Namensvetter. Er erzählte mir, dass seine Hüft-OP nicht erfolgreich verlaufen sei. Er hatte eine sogenannte zementierte Hüftprothese erhalten – und die sei nun nicht richtig zusammengewachsen. Er sei Taxifahrer und liebe Kegeln – beides dürfe er laut Aussage der Ärzte nicht mehr ausüben. Dann erzählte er mir noch, dass er als junger Mann eine Wirbelsäulenverletzung erlitten hatte und 27 Monate auf dem Rücken liegend – mit einem Schaumstoffkeil zwischen den Beinen – im Krankenhaus verbringen musste. Am Schluss sagte er noch, dass er dankbar sei, überhaupt noch laufen zu können.
Ich dachte nur noch: „Robert, halt’s Maul und krieg dich sofort wieder ein.“
Ich ließ alle Distraktionsgegenstände wieder abholen, bestellte den Essen-auf-Rädern-Service ab und wollte auch keinen Besuch mehr haben. Ich hatte für die nächsten zweieinhalb Wochen einen guten Freund und Zuhörer im Zimmer. Er liebte Charles Bukowski. Ich danach auch.
Christian Morgenstern – der zweite – war mein erster und wichtigster Wendepunkt.
In tiefer Dankbarkeit.
Für ihn und meine Zuhörer.
Einmal werde ich noch wach, heißa, dann ist Chemotag
Vielleicht sollte ich diese Kapitelüberschrift noch einmal überdenken und das „heissa“ besser durch „hurra“ ersetzen. Wie auch immer – ich bin sehr froh (klingt schon ein wenig schräg), dass die erste Chemotherapie morgen ansteht. Immerhin ist das die nächste wichtige Behandlungsstufe meiner Krankheit. Die Stufe 4.
Der Idealfall: Die Zytostatika, die bei der Behandlung eingesetzt werden, stören die Zellteilung von Krebszellen und töten diese ab. Sie greifen das Erbgut an und blockieren Stoffwechselabläufe. Die Chemotherapie erreicht so den Tumor in der Prostata, und auch mögliche Metastasen. Die Tumortouristen dürfen dann langsam ebenfalls Abschied nehmen. Mit anderen Worten: Mein Wunschkonzert.
Die Chemotherapie-Kühlgelprodukte lagen bereits im Eisfach. Am Montag um 9 Uhr ist dann Mount-Everesten angesagt. Vorher werde ich noch zur Blutspende geschickt, um zu prüfen, ob die Werte passen.
Der Optimist in mir drängelte sich wieder ein wenig nach vorne, wollte ein bisschen Begeisterung verbreiten, und wurde dafür sofort vom wachhabenden Realisten ins Glied beordert. Der Pessimist versuchte es danach erst gar nicht. Klares Sehen war verordnet.
Während eines Meditationskurses in New York erzählte uns unser buddhistischer Kursleiter folgende Geschichte: Vor etlichen Jahren flog er mit zwei Kollegen zu einer 90-tägigen Meditationsveranstaltung nach Thailand. Drei Monate Schweigen, Sitzen, Meditieren, Niederwerfungen, Gehen, Essen, Trinken, Notdurften und Bettruhe – und dann alles wiederholen. Jeden Tag. Einmal pro Woche gab es einen sogenannten Dharmatalk, also einen Beitrag über buddhistische Lehren vom Kursleiter. Fragenstellen war verpönt. Zuhören, Verstehen und Umsetzen war angesagt. Sozusagen: Just do it.
Nach 45 Tagen erwähnte der thailändische Dozent im Anschluss seines Dharmatalks, dass ab morgen – wie jedes Jahr – wieder die einwöchige Phase ohne Schlaf beginnen würde, und wünschte allen viel Erfolg und vor allem Einsicht. Er verbeugte sich und verließ den Meditationssaal.
Unser Lehrmeister auf Reisen bekam direkt eine Panikattacke. Seine beiden amerikanischen Begleiter standen ihm in nichts nach. Die drei konnten sich nicht mehr beruhigen und stellten sich die folgenden sieben Tage schon mal bildhaft im Hier und Jetzt vor. Sie fühlten bereits Halluzinationen, Schwindel, Zuckungen, Kreislaufprobleme, Magen-Darm-Probleme und den Zusammenbruch des Nervensystems. Mit anderen Worten: körperlicher Ausnahmezustand mit akuter Lebensgefahr. Die Schlaflos-Woche hatte noch nicht einmal begonnen, und alle drei saßen mit der komplett imaginierten Symptomatik im Lotussitz und hatten Schnappatmung.
Der thailändische Tutor bekam das mit und bat die drei zu sich und erklärte ihnen, dass dies natürlich kein Kinderspiel sei. Allerdings sei das eine jahrhundertealte Tradition, und bis dato habe es noch nie Kollateralschäden gegeben.
Das Geheimnis sei ganz einfach:
Wenn du sitzt, sitz.
Wenn du gehst, geh.
Wenn du meditierst, meditiere.
Wenn du auf die Toilette gehst, geh auf die Toilette.
Alles hat seine Zeit. Atme eine Sache ein – und danach atmest du sie wieder aus. Dann widmest du dich der nächsten Sache. Sie sollten sich nicht schon in der Gegenwart das mögliche Leiden der Zukunft vorstellen. Sie sollten einfach im gegenwärtigen Moment bleiben.
Und wie die Amerikaner nun mal so sind – go big or go home – hängten sie noch einen achten Tag dran. So sind die Amis, man muss sie einfach mögen.
Ich ließ die Chemo Chemo sein und betrachtete die Uhr. Es war 22:23 Uhr. Die Chemo hatte noch nichts zu melden.
Der Kölner sagt dazu: Wat kütt, dat kütt. Am Montag gegen 11 Uhr weiß ich dann mehr.
Einmal ambulantes Chemobuffet, bitte …
Die ganze Zeit hatte ich versucht, ChatGPT zu umgehen und nicht in den Neugierigkeitsmodus umzuschalten. Aber – ich bin einfach zu schwach, und mein Widerstandslevel liegt offensichtlich auf Grasnarbenniveau. Also fütterte ich meinen persönlichen Online-Assistenten mit verschiedenen Fragen – und bekam auch prompt Antworten. CGPT war äußerst sachlich, nicht wertend, nicht interpretierend. Angenehm. Und offensichtlich hatte meine rechte Hand bereits ebenfalls in den Klar-Sehen-Modus gewechselt.
Hier die Zusammenfassung dessen, was mich morgen und in den darauffolgenden Tagen erwartet:
Meine Chemotherapie wird mit Docetaxel durchgeführt. Die 75 Milligramm pro Quadratmeter Körperoberfläche werden in 250 bis 500 Milliliter Kochsalzlösung oder Glukose verdünnt, die dann über den Tropf langsam in mich hineintröpfelt. Wie lautete gleich nochmal die Formel zur Berechnung? KÖFᴿ = 0,007184 × (Körpergröße in cm ÷ 0,725) × (Ego + Gewicht in kg ÷ 0,425). Egal – 75 Milligramm klingt nach wenig, wird aber sicher Eindruck machen. Die Infusion dauert eine gute Stunde. Also: Abwarten und Vertrauen. Die Chemo übernimmt das Kommando und greift die bösen Zellen an. Meine guten werden hoffentlich in Deckung gehen, um ungeschoren davonzukommen.
Ich werde also daliegen, der klaren Flüssigkeit zusehen, wie sie langsam in mich hineintropft – und versuchen, mich auf das zu konzentrieren, was hoffentlich nicht passiert. Kein Brennen, kein Schwindel, kein Drama. Nur dieses leise Gefühl, dass etwas in Bewegung kommt.
Was danach passiert? An Tag zwei bis fünf wird eventuell das große Überraschungspaket geliefert: Müdigkeit, Kribbeln, Geschmacksverlust – oder auch einfach gar nichts. Jeder Körper reagiert anders. Meiner hat sich bisher eher kooperativ gezeigt, also bleibe ich optimistisch. Leichte Aktivitäten sind erlaubt – ein Spaziergang, etwas Bewegung wie Fahrradfahren, solange der Kreislauf mitspielt. Sauna sollte ich in den ersten Tagen lieber sein lassen. Das Immunsystem hat dann genug zu tun. Ich nehme mir vor, das Ganze sportlich zu sehen – im wörtlichen Sinn.
Der Realist in mir wird die Tropfen zählen, der Optimist lehnt sich mit einem Gewinnerlächeln zurück – und der Pessimist? Der darf ausschlafen. Den braucht niemand.
D-Day – 06. Oktober 2025
Oft – und fälschlicherweise – auch als „Decision Day“ übersetzt. Die eigentliche Bezeichnung für die Militäraktion der Alliierten am 6. Juni 1944 lautet: Operation Overlord. Ich nehme mir mal die schriftstellerische Freiheit und taufe diesen Begriff ab heute – und für mich – in Operation Cancerover um und blies, etwas unbeholfen und bemüht, das Angriffssignal in die Trompete.
Obwohl ich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten geboren wurde, bin ich trotzdem Pazifist geworden. Also einer dieser US-amerikanischen Lachse, die gerne – und eigentlich fast immer – gegen den Strom schwimmen. Hinzu kommt, dass ich vor 42 Jahren mal so richtig Schwein hatte und nicht zum Grundwehrdienst der Deutschen Bundeswehr eingezogen wurde. Dieser 18-Monats-Kelch ist glücklicherweise an mir vorbeigegangen. Da die United States Armed Forces seit 1973 ohne Wehrpflicht sind, blieb es mir erspart, mit 40 Kilogramm Gepäck durchs Unterholz zu robben oder die friedlichen Zeilen der US-Nationalhymne, des Star-Spangled Banner, mitzusingen. Hier mal ein Auszug:
Und der rote Schein der Raketen,
die Bomben, die in der Luft explodierten,
bewiesen durch die Nacht hindurch,
dass unsere Flagge noch immer dort wehte.
Schätzungen zufolge befinden sich in den USA über 400 Millionen Schusswaffen in Privatbesitz. Walk the talk. Da macht die Hymne wieder total Sinn. Ein Hoch auf den zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung.
Allerdings musste ich meinem motivierten Militaristen in mir doch ein klein wenig Bühnenpräsenz verschaffen. So ganz ohne martialisch können wir den Krebs nicht besiegen. Als wir uns kurz darüber unterhalten wollten, stand er schon mit Tomahawk-Raketen unterm Arm in der Tür. So mag ich das – in die Vollen gehen. Den Drei-Tage-Bart-Rasierer habe ich auch schon bestellt, für den Fall, dass ich mir à la Demi Moore meine Mähne abrasieren muss. Die Onkologin erklärte mir heute vor der Untersuchung, dass sechs von zehn Chemopatienten anschließend mehr Körperfläche zum Bräunen haben.
Meine 51-prozentige Beteiligung an Müllermilch konnte ich heute ohne großes Aufsehen und Komplikationen in Shop-Apotheke-Anteile umtauschen. Ich freue mich schon, Günther Jauch persönlich kennenzulernen. Hier mal die Einkaufsliste der Medikamente, die ich die nächsten Wochen einnehmen darf:
Pantoprazol 20 mg – morgens nüchtern, 1 Tablette.
Levogastrol 25 mg – 30 Minuten vor Frühstück, Mittag- und Abendessen, 1 Tablette. Maximal alle 8 Stunden – nur wenn Übelkeit auftritt.
Ondansetron 4 mg – SP: 1 Tablette, nur wenn die Übelkeit nach Levogastrol nicht verschwindet.
Fortecortin 4 mg – SP: 1 Tablette, nur wenn auch nach Ondansetron noch Übelkeit besteht.
Fortasec 2 mg – SP: 2 Tabletten nach dem zweiten Durchfall des Tages. Maximal 6 Tabletten täglich.
Paracetamol 1 g – alle 8 Stunden, nur bei allgemeinem Unwohlsein und leichtem Fieber.
Enantyum 25 mg – alle 8 Stunden, wenn Paracetamol nicht hilft.
Dacortin 5 mg – 1 Tablette morgens nach dem Frühstück.
Ich habe dann wahrscheinlich kaum noch Zeit, zwischen der täglichen Medikation feste Nahrung zu mir zu nehmen.
Alle in der Klinik heute waren zuckersüß und maximal hilfreich. Mir wurde alles genau erklärt, und ich durfte alle Fragen stellen und Bedenken äußern – sofern ich welche gehabt hätte. Nach der Blutabnahme (PSA 3,15 ng/mL!!!) wurde ich bettlägerig gemacht, bekam die Docetaxel-Tropfinfusion an den Venenzugang angelegt und zog meine auf minus 22 Grad heruntergekühlten Handschuhe und Füsslinge an. Die gefrorene Kältemütze rundete das Erscheinungsbild stilistisch ab. Ob meine Finger- und Fußnägel jetzt wegen der Chemo oder wegen Erfrierungen schwarz sind, konnte die diensthabende Ärztin nicht mit Sicherheit sagen.
Die Zeit verging im Flug. Ich lauschte Friedrich Merz, zu Gast bei Caren Miosga – beste Unterhaltung. Wie Pudding an die Wand nageln. Irre.
60 Minuten Chemo waren angesetzt, und nach einer Stunde ertönte der Gong. Ich wurde abgekabelt und durfte nach insgesamt 4,5 Stunden wieder gehen. Die nächste Sitzung habe ich in genau drei Wochen. Bis dahin darf der Wirkstoff bitte ganze Arbeit leisten. Bei den Nebenwirkungen darf er sich bitte komplett zurückhalten. Bis dato hat er das getan. Brav.
Die Intelligenz des Menschen ist grenzenlos
Bei Einstein klang das allerdings etwas anders: „Zwei Dinge sind unendlich – das Universum und die menschliche Dummheit; aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“ Ich wollte da mit ihm nicht im Unisono-Chor mitsingen und war – wieder einmal – komplett überwältigt von den schier grenzenlosen Kapazitäten des menschlichen Gehirns, Dinge zu erfinden.
Wer kennt noch die Story der Apollo 13?
Aus Plastiktüten, Pappe, Schläuchen, Klebeband, Socken und einem Raumanzug-Schlauch bastelten die Jungs – nach exakter Anleitung der Bodencrew – eine improvisierte Adapterlösung, um die quadratischen CO₂-Filter in das runde System einzubauen. Das Ergebnis: Der CO₂-Gehalt sank. Die Crew überlebte. Sie schufen aus dem Nichts etwas, das in die Geschichte der Ingenieurskunst eingegangen ist – eine Sauerstofffilter-Adapterkonstruktion aus Bordmitteln. Jim Lovell sagte später sinngemäß: „Wir haben mit Klebeband das Universum besiegt.“
Nachdem mir meine Onkologin heute den Wirkmechanismus der Docetaxel-Chemotherapie erklärt hatte – Motto: Onkologie für Dummies – dachte ich spontan: „Wir besiegen den Krebs auch mit Bordmitteln.“ Zum Glück mussten wir diesmal nicht kreativ werden und improvisieren – das haben andere schon vorher übernommen. Da ziehe ich den Hut. In diesem Fall sogar den Montecristi Panama-Hut.
Ich versuche mich mal in einer Dummy-Analogie. Ich erinnere mich noch an meine letzte Narkose – ist noch gar nicht so lange her. Der Darmdoktor verabreichte mir Propofol, das Wohlfühl-Wundermittelchen. „Bitte zählen Sie jetzt rückwärts von zehn“, sagte er. Ich schaffte es selbstbewusst bis sieben – danach war das Licht aus. Das Zeug braucht gerade mal ein paar Sekunden vom Venenanschluss ins Herz, dann zack – Aufzug ins Gehirn. Guten Abend, gute Nacht.
Und jetzt Docetaxel für Dummies: gleicher Weg, völlig anderes Tempo. Wenn Propofol ein 100-Meter-Sprinter ist, dann ist Docetaxel der strategische Marathonläufer. Das Chemotherapeutikum tröpfelte eine Stunde lang in mich hinein. 258 Milliliter machten sich auf den Weg – rein in die Vene, weiter zum Herzen, dann im Blutkreislauf auf Ganzkörper-Tournee. Docetaxel lässt sich dabei Zeit. Es sucht gezielt die Zellen, die sich dauernd teilen wollen – und genau da legt es los: Es blockiert die winzigen Strukturen, die eine Zelle braucht, um sich zu teilen. Ohne die bricht der Zellteilungsplan in sich zusammen – und das war’s dann mit dem Wachstum.
Währenddessen läuft mein Körper auf Hochtouren: Die Leber baut ab, die Nieren filtern, und irgendwo im Inneren schaut mein Immunsystem erstmal neugierig zu, bevor es beim Aufräumen hilft. Die ersten Stunden nach der Infusion passiert noch nicht viel – der Wirkstoff verteilt sich, macht es sich häuslich. Nach einem Tag beginnt der Großreinemach-Modus: Zellen, die sich teilen wollen, werden blockiert, das Immunsystem fegt den Rest zusammen. Nach zwei bis vier Tagen ist der größte Teil der Substanz abgebaut – aber ihre Wirkung hält an, wie ein nachklingendes Echo im Körper. Bis zur nächsten Chemo in drei Wochen.
Das Thema Nebenwirkungen erklärte mir mein Urologe klar und einsichtig. Er fragte mich: „Soll ich Ihnen jetzt wirklich alle möglichen, zigtausenden Nebenwirkungen erklären?“ – und ergänzte: „Sie wissen ja, wie Sie sich normalerweise fühlen. Alles, was sich anders anfühlt, ist dann eine Nebenwirkung.“
Hat noch jemand eine Frage?
SINAMION – NOMASINI – INSONAMI – NOMIANIS – ASMINION – AIIONNOS
Alle Schäfchen waren durchgezählt und standen ordentlich in Reih und Glied. Die meckernden Ziegen mussten in die zweite Reihe. Ich konnte nicht ausmachen, ob das Vor- oder das Unterbewusstsein die Regie führte. Irgendwie lag ich gedankenlos da. Ich konnte einfach nicht einschlafen. Ich war nicht wirklich müde. Um 4:36 fiel mir zudem auf, dass ich bis dato nicht einmal gegähnt hatte. Fun Fact: Beim Gähnen wird das Blut, das zum Gehirn fließt, abgekühlt – was das Gehirn selbst kühlt und seine Leistungsfähigkeit steigert. Die Häufigkeit des Gähnens nimmt abends zu, da die Gehirntemperatur dann am höchsten ist. Mal abgesehen davon, dass mein Gehirn auch ohne Gähnen im Hochleistungsmodus war – verstanden habe ich die Erklärung nicht. Danke, Google-KI. Wenn du sie nicht überzeugen kannst, verwirre sie.
Es gibt Nächte, die sind keine Nächte. Sie sind Bühnenstücke mit wechselnder Besetzung: Der Körper spielt Erschöpfung, der Kopf führt Regie. Während draußen die Welt leise wurde, schob mein Gehirn Sonderschichten. Da benötigt man überhaupt keine Sorgen oder Ängste – alleine über die Schlaflosigkeit nachzudenken reicht da völlig. Geil, jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, muss ich am laufenden Band gähnen. Rudi Carrell lässt grüßen. Ich zähle mittlerweile keine Schafe mehr, sondern Satzzeichen. Irgendwann beginne ich, aus meinem Erschöpfungszustand Buchstabensalat zu machen: Sinamiom, Nomasini, Insomani … neue Wörter für Wachphasen. Insomnia ist dann nur noch der medizinische Fachausdruck für Schlaflosigkeit, und meine kreativen Neuwortschöpfungen stehen für die verschiedenen Nicht-Schlafphasen. Ich war gerade in der Asminion-Phase. Vielleicht ist Insomnia auch gar keine Schlafstörung, sondern nur ein kreativer Overflow. Der Beweis: Ich bin hellwach, völlig übermüdet – und sitze am Computer und schreibe. Mein Denken hat also Nachtschicht.
Wer du denkst zu sein, ist, wer du denkst zu sein. Es ist ein Konstrukt; eine bildhafte Vorstellung. Sie kommt und geht, denn ein Gedanke ist einfach nur ein Gedanke – mehr nicht. Und der will trotzdem unentwegt Regie führen. Nervig.
Als ich gestern früh im Wartesaal der Onkologie saß, war ich der Erste. Deutsche Pünktlichkeit. Die medizinisch-wissenschaftliche Abteilung, die sich mit der Diagnose, Behandlung und Prävention von Tumorerkrankungen beschäftigt, war noch komplett dunkel. Nach und nach trudelten weitere Patienten ein und nahmen im weiträumigen Wartebereich Platz. Zu meinem Erstaunen sahen die alle völlig normal aus. Ein Querbeet durch die Gesellschaft – jung und alt. Auf dem Weg in die Klinik machte ich mir noch Gedanken – soviel zum Thema – wie das wohl alles sein wird, was auf mich zukommt, und hatte offensichtlich eine völlig falsche Erwartungshaltung. Ich will es mal so sagen: Ich hatte erwartet, dass Chemotherapie sichtbare Spuren hinterlässt – und war in Schockstarrenerwartung. Soviel zum Thema: in der Gegenwart sinnlos leiden. Ich war sehr erleichtert über den Anblick.
Die Wissenschaft müsste ein Mittel erfinden, mit dem man Gedanken zeitweise ausschalten kann. Einfach nur: Nichts. Ich wäre Beta-Tester. Speziell, wenn man in die traumlosen Phasen des verdienten Schlafs erst gar nicht hineinschläft.
Ich war jetzt in der Aiinnos-Phase. Es ist 5:38, Guten Morgen!
Curiosity killed the cat
Sechs Chemos stehen insgesamt auf dem Plan. Alle drei Wochen also ein neues Date mit meinem Tröpfchen – meine persönliche Netflix-Miniserie: „Docetaxel – Liebe auf Zeit“.
Ich bekam heute die Zusammenfassung der gestrigen Untersuchung samt Blutanalyse – und spürte förmlich, wie mein Serotonin- und Dopaminspiegel sprunghaft anstieg. Da stand:
Gesamtbewertung
Der Patient zeigt eine sehr gute Allgemeinverfassung mit stabilen Organfunktionen und positiver Reaktion auf die bisherige dreiwöchige Hormontherapie. Die Blutwerte sind insgesamt belastbar und für die geplante Chemotherapie geeignet. Leichte Anämie und eine geringe Lymphopenie sind typische, harmlose Begleiterscheinungen der laufenden Therapie. Die erhöhte alkalische Phosphatase spiegelt den Knochenstoffwechsel wider – voraussichtlich durch Heilungsvorgänge nach der Bestrahlung. PSA 3.15 ng/mL (aktuell). Deutlich fallende Tendenz – Zeichen eines sehr guten Therapieansprechens auf Nubeqa + Trenantone. Fazit: Optimale Ausgangslage für den Start der Docetaxel-Chemotherapie. Der Körper ist stabil, die Hormontherapie wirkt, Leber und Nieren sind voll funktionsfähig.
Das war doch mal Champagner für meine Augen. Durch diese unerwartete Extraportion Selbstbewusstsein wagte ich mich wieder ins Internet und befragte neugierig meinen persönlichen Berater bezüglich des zukünftigen Verlaufs der Chemotherapie. Die Frage ist durchaus berechtigt: Fängt das jedes Mal wieder bei null an? Also, sechsmal das Gleiche – oder merkt sich der Körper die vorhergehenden Sessions?
Kurz gesagt: beides. Hier meine Zusammenfassung der Anfrage-Ergebnisse:
Jede Infusion ist in sich abgeschlossen – wie eine Episode. Docetaxel wirkt nach jeder Sitzung wieder neu, zirkuliert, verteilt sich, greift Zellen an, wird abgebaut. Aber der Körper? Der führt Tagebuch. Die Wirkung baut aufeinander auf, weil sich mit jeder Runde noch ein paar mehr Krebszellen verabschieden – hoffentlich für immer. Gleichzeitig aber sammeln sich auch die Erinnerungen an die Therapie im Körper an. Sozusagen im Nebenwirkungs-Archiv.
Das bedeutet: Die erste Sitzung ist meist noch der sanfte Einstieg. Der Körper denkt sich: „Ach, das war’s schon?“ Bei der dritten oder vierten weiß er dann, was kommt – und reagiert manchmal schneller oder sensibler. Müdigkeit, Geschmacksverirrungen, Kribbeln, trockene Haut – das kann sich mit jeder Runde etwas verstärken oder länger anhalten. Manchmal aber auch gar nicht. Man weiß es einfach nicht – Chemo ist kein dauerhafter Lebenspartner, sondern eher ein unberechenbarer Mitbewohner auf Zeit.
Die drei Wochen Pause dazwischen sind clever kalkuliert. Die geben dem Körper Zeit, sich zu erholen, die guten Zellen nachwachsen zu lassen und die Blutwerte wieder in den Normalbereich zu bringen. Was bleibt, ist der Rhythmus: drei Wochen Alltag, ein Tag Labor und Infusion. Wie eine gut gemachte Serie mit sechs Kapiteln – jedes für sich lesbar, aber nur zusammen ergeben sie am Ende einen Sinn.
16,66 % habe ich bereits hinter mir. Die Nebenwirkungen hatten die Einladung für die erste Behandlung zum Glück nicht gelesen. Ich hab sie sicherheitshalber in Sütterlinschrift verfasst – mal sehen, wer das heute überhaupt noch entziffern kann. Falls die Begleiterscheinungen das dann doch lesen können, werde ich für die dritte Session mal die Keilschrift der Sumerer verwenden.
Es müsste mit dem Beelzebub zugehen, wenn die dann trotzdem auftauchen sollten.
Zoll. Pi. Dem.
Schlaflosigkeit, Runde zwei, war angesagt. Frohen Mutes begab ich mich in die Heia und gähnte schon mal prophylaktisch. Placebogähnen sozusagen. Ich lag im Bett, als hätte ich ein Locked-in-Syndrom – regungslos auf dem Rücken. Erstaunlicherweise war mein Frontallappen komplett leer. Mein Bewusstsein hatte also schon alle Viere von sich gestreckt. Ich ließ meine Extremitäten entspannen und wartete aufs Einschlafen.
Beim nächsten Ton ist es 0 Uhr, 36 Minuten und 20 Sekunden. Biep. Da ich der inneren Zeitansage jetzt schon fast 40 Minuten lauschte, zog ich den Stecker. Mein Schlafunterstützungsmedikament lag bereit: Zolpidem 10 mg. Ab damit in den Schlund. Schlummerland kann kommen.
Beim nächsten Ton ist es 0 Uhr 57 Minuten und 10 Sekunden. Biep. Mittlerweile war auch mein Bewusstsein wieder ausgeruht und schlug mir vor, mal wieder mit Worten zu spielen: „Lass uns doch das Wort Zolpidem etwas auseinandernehmen und mit den Silben spielen.“ Zack – ich war wieder hellwach. Ich warf das Einschlafhandtuch und spielte mit meinem Stirnhirn „Wer wird Millionär“. Die zu erratenden Worte: Zol. Pi. Dem.
Meine Orthografie wollte auch mitspielen und regte an, dem Zol doch noch ein zweites l zu gönnen. Der Lappen und ich stimmten zu. Also: Zoll. Pi. Dem. Den Zoll hatte ich relativ schnell erklärt – also die 500-Euro-Frage. Da stehen wir mit erhöhter Herzfrequenz und leichter Transpiration, wenn wir die im Urlaub erworbenen unnützen Sachen eigentlich angeben müssten, aber trotzdem durch den „grünen Ausgang“ (anmeldefrei) laufen. „Schatz, schau doch nicht so angestrengt – wir fallen sonst auf. Lächel doch mal ein bisschen!“
Bei Pi, der 1.000-Euro-Frage, war ich mir nicht sicher, ob ich einen Joker ziehen sollte. Wie schon bei Morgenstern und seinem Lattenzaun konnte ich mich direkt an 3.1415927 erinnern. Irre, was sich mein Gehirn alles merken kann. Jauch nickte, wollte aber wissen, wofür die Kreiszahl steht. Lappi und ich berieten kurz. „Irgendwas mit Umfang des Kreises und Durchmesser?“ „Richtig“, sagte Günther. Uff.
Jetzt war Dem an der Reihe. Ich gab „Rettet dem Dativ!“ zum Besten. Jauch wollte ein Beispiel, ich: „Wem sein Ball ist denn das?“ – „Dem seiner.“ „Korrekt!“, jauchzte es. Wir waren auf der Siegerstraße.
Die restlichen Fragen bis zur Millionen erspare ich meinen Lesern. Irgendwann sind Fronti und ich dann wohl doch eingeschlafen. Heute Nacht werde ich mir das Zolpidem eher genehmigen. Die WWM-Session von gestern brauche ich kein zweites Mal.
Ich schätze, die ganze Medikation, die ich nehmen muss, hat einen nicht kleinen Anteil an meinem körperlichen Zustand. Ich habe tatsächlich keinerlei größere Gedanken, Grübeleien oder Ängste. Ich bin de facto gedanklich entspannt. Ich liege nur – wie eingeschaltet – im Bett. Auch tagsüber hatte ich keinen Bedarf, ein Nickerchen zu machen. Ich glaube, mir fehlen meine ausgedehnten Radtouren in der Natur. Die körperliche Belastung. Ich werde heute im Gym auf dem Spinningrad mal wieder ein paar Gänge hochdrehen.
Allerdings muss ich ab heute für den Rest der Chemotherapie Prednison 5 mg zu mir nehmen. Zweimal täglich. Das Medikament wirkt entzündungshemmend, bremst überaktive Immunreaktionen und soll meinem Körper helfen, während der Chemotherapie im Gleichgewicht zu bleiben – und sorgt nebenbei dafür, dass ich mich halbwegs menschlich fühle.
Also dann – das erste Mal in meinem Leben mich menschlich fühlen. Vielleicht lässt mich ja genau dieses Gefühl endlich einschlafen?
In eigener Sache – 08. Oktober 2025
Heute hatte ich zum ersten Mal seit 37 Tagen das Gefühl, wieder der „alte“ Robert zu sein. Ich fuhr mit meinem Stadtradl ins Gym, lauschte einem meiner neu produzierten Songs (Don’t Stop Me Now) und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Ein Gefühl zum Bäumeausreißen. Eine unfassbar schöne Empfindung. Ich spürte pure Dankbarkeit.
Long live this moment. I love it.
In diesem Zusammenhang fiel mir ein anderer Song ein, der mir außergewöhnlich gut gefällt – ein Titel von Tim McGraw aus dem Jahr 2004. Hier einige Auszüge aus dem Songtext, frei ins Deutsche übersetzt:
Live Like You Were Dying
(Lebe so, als würdest du sterben)
„Ich war Anfang vierzig, das Leben noch vor mir,
als dieser eine Moment kam, der alles anhielt.
Die nächsten Tage verbrachte ich vor Röntgenbildern,
sprach mit Ärzten über Optionen –
und mit Freunden über die schönen Zeiten.“
Ich fragte ihn, wann ihm klar wurde, dass das hier vielleicht wirklich das Ende ist. „Wie trifft dich so eine Nachricht? Was machst du dann?“
Er antwortete:
„Ich sprang mit dem Fallschirm,
ich kletterte in den Rocky Mountains,
ich ritt 2,7 Sekunden lang auf einem Bullen namens Fu Man Chu.
Ich liebte tiefer, sprach freundlicher
und vergab Menschen,
denen ich lange nicht vergeben hatte.
Eines Tages, hoffe ich, bekommst du die Chance,
zu leben, als würdest du sterben –
so, als wäre morgen ein Geschenk
und du hättest die Ewigkeit,
um darüber nachzudenken,
was du mit diesem Tag anfängst.“
Wie sagen die Amerikaner so schön? Amen.
Betthupferl
„Sich fürsorglich aufgehoben fühlen.“ Die Wikipedia- und Dudenbeschreibung darf gerne durch folgende ersetzt werden:
Eben gerade – 20:13 Uhr! – habe ich eine Nachricht von meiner Radiologie-Onkologin erhalten. Wie aufmerksam ist das denn bitte? Sie fragte mich, wie ich mich fühle. Ich berichtete ihr von meinem emotional großartigen Tag – und meiner Insomnia. Ha! Da muss man erst einmal drauf kommen: Anfänger- und Anwendungsfehler. Ich dürfte die Fortecortin- und Prednison-Tabletten nicht zu spät nehmen. Da ich die Chemotherapie am Montag um 10 Uhr begonnen hatte und mich brav an die Ansagen des Personals hielt (zweimal täglich, alle zwölf Stunden), habe ich beide Schlafentzieher jeweils pünktlich vor dem Matratzenhorchdienst eingeworfen. Die erste nach der Chemo, die zweite – logisch – zwölf Stunden später. Fatal, denn diese Medikation führt gerne mal zu Schlafdisturbationen.
Also: nix mehr mit nächtlichem Scrabble. Ich bin noch schnell in die Apotheke gelaufen und habe mir eine Klinikpackung Schnuller mit Lavendelgeschmack gekauft.
La Le Lu.
Auf jedes Hoch folgt ein Tief
Das Gesetz der Polarität schlug mal wieder gnadenlos zu – also die nicht ganz so angenehme Seite von Yin und Yang. Nach der lieben Nachfrage meiner Onkologin genehmigte ich mir die schlaflosigkeitsverursachende Medikation diesmal deutlich früher und freute mich schon darauf, mich in Morpheus’ Armen wiegen zu können. Roberto im Bubu-Modus. Und kaum war ich in der bildhaften Vorstellung, musste ich schon tief und lange gähnen. Herrlich. So geht Vorfreude.
Drei Stunden später spielten Fronti und ich dann ein paar Runden Words with Friends. Das war eher langweilig und kein schöner Zeitvertreib – eher lustloses Herumraten. Auch der Wechsel aufs Sofa machte es nicht kurzweiliger. Meine Beine waren hellwach und hatten Redebedürfnis. Die etwas härtere Gangart im Gym nach über fünf Wochen hatte ihnen offenbar nicht geschmeckt, und sie zahlten es mir mit diversen Krämpfen heim. Der Magen wollte dann auch noch ein wenig im Konzert der Missempfindungen mitspielen.
Hatte ich die Nykturie schon erwähnt? Gestern Nacht stellte ich meinen persönlichen Rekord mit sieben Mal Wasserlassen in lediglich sechs Stunden ein. Man soll den Tag eben nicht vor dem Abend loben. Wahrscheinlich hat das eine allerdings überhaupt nichts mit dem anderen zu tun. Ich war ja – besser gesagt: bin ja – alles andere als gesund. Das Docetaxel ist nach knapp 72 Stunden bestimmt immer noch am Werkeln, und die 14 Tabletten, die ich täglich zu mir nehme, sind bestimmt auch (noch) kein eingespieltes Team. It’s easy to love, but not easy to live together. Wir sind eben alle noch in der Kennenlernphase.
Nächsten Mittwoch bekomme ich zur Chemo-Halbzeit wieder Blut abgenommen, um zu sehen, wie mein Körper die erste Zellgiftsitzung verkraftet hat. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Bis Mitte Januar – die letzte Chemo – ist es noch ein ganzes Stück, das ich zurücklegen muss. Ich nehme die Dinge, wie sie sind.
Den schönen Moment, den ich gestern Nachmittag hatte, kann mir keiner nehmen. Den habe ich genauso empfunden, wie ich ihn beschrieben habe. Was das Heute bringt, werde ich später am Abend wissen. Bis dahin versuche ich, so viele schöne Momente wie möglich zu sammeln. Als Nächstes auf der Schöne-Momente-sammeln-Speisekarte: ein ofenfrisches Croissant und eine Hafermilchlatte.
Quod erat demonstrandum.
Matthäus 5, 3 – 9. Oktober 2025
„Selig sind die geistig Armen.“ Der Ausdruck stammt aus der Bergpredigt und beschreibt eine Haltung der Bescheidenheit und des Verzichts auf das eigene Ego. Kein Aufruf zu Dummheit oder Armut, sondern eher eine Einladung zum Innehalten. Vielleicht sollte ich mein Ego auch mal an den See Genezareth schicken und es dort ein wenig ausspannen lassen. Ein bisschen Sonne, etwas Demut – und vor allem kein WLAN.
Alternativ könnte ich auch den ganzen Tag Steine kloppen. Ich käme a) bestimmt nicht auf schwachsinnige (ich liebe dieses Wort) Gedanken und b) wäre ich abends garantiert hundemüde. Die Vierbeiner machen’s vor: Sie dösen oder schlafen bis zu 20 Stunden am Tag. Da bleibt nicht viel Zeit für Nonsens – vor allem nicht für Internetnonsens.
Prednison ließ mir keine Ruhe. Ich stöberte im World Wide Web nach Nebenwirkungen. Ganz großer Fehler. Danach benutzte ich die Suchleiste einer bekannten Suchmaschine, um herauszufinden, warum man solch ein Medikament mit derartigen Begleiterscheinungen überhaupt einem Patienten geben sollte. Noch größerer Fehler. Ich stieß auf eine Studie zu „Docetaxel plus Prednison“. Das Fenster hätte ich sofort wieder schließen sollen. Ich las Dinge wie „Hazard Ratio für Tod“ und „mediane Überlebenszeit“. So geht Reizmagen ohne Notwendigkeit.
Ich erinnerte mich an eine junge Frau aus einem Coaching. Ich fragte sie, was sie tun würde, wenn sie ein Selfie posten würde, das sie richtig gut gelungen fände – natürlich, echt, schön – und ihre Freunde würden darunter besorgt oder kritisch kommentieren. Ihre Antwort kam ohne Zögern: „Ich würde das Bild sofort löschen.“
So fühlte sich mein Körper beim Lesen der Studie an. Wie ein stimmiges Selfie, das man besser wieder löscht. Meine Egoneugier hatte mal wieder ganze Arbeit geleistet. Ich bleibe jetzt lieber bei Folgendem:
Wissen ist Macht.
Ich weiß nichts.
Macht nichts.
Das war das letzte Mal, dass ich etwas über Medikamente oder Nebenwirkungen herausfinden wollte.
Es ist, wie es ist.
La vita è bella
Alte Fotos durchsehen.
Andere Menschen beobachten.
Atmen.
Barfuß durchs nasse Gras laufen.
Das Gefühl von warmem Sand unter den Füßen.
Das Geräusch meiner Espressomaschine am Morgen.
Das Rascheln von Blättern im Wind hören.
Den Sonnenuntergang betrachten.
Eine Hand halten, einfach so.
Eine kühle Brise auf der Haut spüren.
Eine liebevolle Nachricht zur richtigen Zeit erhalten.
Ein ehrliches Lächeln bekommen – oder schenken.
Ein frische Ingwer-Zitrone-Minze-Tee mit bestem Honig.
Einfach den Wellen am Strand zuschauen.
Einfach ziellos spazieren gehen.
Etwas Neues lernen, einfach weil es Freude macht.
Fahrrad fahren.
Für andere da sein.
Fürsorgliche und hilfsbereite Ärzte um sich zu haben.
Gitarre spielen.
Gute Bücher lesen.
Gute Gespräche.
Gute Musik.
Griechischer Joghurt mit 5 % Fettanteil.
Im Auto laut mitsingen.
In der Sauna sitzen.
Interessanten Podcasts lauschen.
Jemandem zuhören, ohne etwas sagen zu müssen.
Lecker für sich und andere kochen.
Mit Freunden laut lachen, bis einem der Bauch wehtut.
Mit jemandem schweigen, ohne dass es unangenehm ist.
Miterleben, wie Kinder groß werden.
Morgens aufwachen und merken, dass man ausgeschlafen ist.
Ofenwarme Croissants.
Pasta al dente.
Schafe blöken hören.
Selbstgemachten Nudelsalat essen.
Sich den Wind um die Nase wehen lassen.
Sich inspirieren lassen.
Vogelgezwitscher am Morgen und am Abend.
Warme Sonnenstrahlen.
Warmes Baguette mit Frischkäse.
Zeit mit Freunden verbringen.
Ziegen beim Meckern lauschen.
Die Stille nach einem Gewitter.
Und noch vieles, vieles, vieles mehr.
Jeder einzelne Moment – absolut lebenswert und liebenswert.
Das Leben muss man nicht neu erfinden. Es genügt, es einfach und immer wieder zu bemerken.
New York, New York
„If I can make it there, I’ll make it anywhere.“ Wahrscheinlich die berühmteste Textzeile des Songs New York, New York, den Frank Sinatra weltberühmt gemacht hat – die Hymne auf eine Stadt schlechthin. Liza Minnelli war damit allerdings schon 1977 erfolgreich, als sie den Song erstmals aufnahm.
“Rags to riches” ist ebenfalls so eine typische Redewendung aus dem Land der Freiheit und der Heimat der Tapferen – auf Deutsch: vom Tellerwäscher zum Millionär. Man muss nur daran glauben.
Als ich Ende der Nullerjahre mal wieder mit meinem Rad die Straßen New Yorks unsicher machte, musste ich an der Kreuzung 23rd Street und 5th Avenue am rot leuchtenden Lichtsignal-Diktator anhalten. Allerdings nur ungern. Rote Ampeln sind für NYC-Radler kein Imperativ zum Verweilen. Zwei nicht ganz so freundlich dreinblickende Cops verliehen dem Zwangsstopp allerdings durch ihre Präsenz ein wenig Nachdruck. So hatte ich Zeit, mich umzuschauen. Zu meiner Rechten das berühmte Flatiron Building – von Deutschen wegen seiner Form auch das „Bügeleisengebäude“ genannt – und schräg rechts vor mir der Madison Square Park. Eine von wenigen Grünflächen in der Betonwüste.
Ich bemerkte einen Obdachlosen, wie er die 5th Avenue in Richtung Park überqueren wollte. Seine schwer in Mitleidenschaft gezogene Kleidung wog am Ende wohl mehr als er selbst, und ich registrierte seine vorne halboffenen Schuhe mit jeweils bandagiertem Mittelfuß. Es sah so aus, als hätte man ihm die Zehen an beiden Füßen amputiert. Er war in ziemlich schlechter Gesamtverfassung, und es dauerte fast zwei Minuten, bis er die vielleicht 30 Meter überquert hatte. Unsere Ampel war zwar längst wieder auf Grün gesprungen, doch keiner fuhr los. Erst, als der Wohnungslose auf dem Trottoir stand, rollten die Autos wieder an.
Ich fuhr zu ihm und fragte, ob ich ihm etwas zu essen oder zu trinken besorgen könne. Er war aufrichtig. Er wollte nur Geld. Ich gab ihm ein paar Dollar und fragte, was passiert sei – ob er einen Unfall gehabt hätte. Er sagte, er habe Diabetes, und sie hätten ihm die Zehen amputieren müssen, weil die Wunden an den Füßen nicht heilten. Sonst hätte er sich wahrscheinlich eine gefährliche Infektion geholt. Unvorstellbar traurig. Wir wechselten noch ein paar Worte, dann wünschte ich ihm gute Besserung.
Seine Antwort:
„Man, I hope it will get better, I really do.“
Der Sieg der US-amerikanischen Hoffnung. Ach ja – ich bin ja selbst einer.
Crampus Spasmus
Nein, das ist keine fiktive Figur aus dem Filmklassiker Life of Brian von den Monty Python. Wobei – eine Erwähnung hätte der Name verdient. Allerdings, wenn Pontius Pilatus mit seinem lispelnden Sprachfehler in der Originalfassung „Biggus Dickus“ sagt – das ist nicht zu schlagen. Im Deutschen genial mit „Schwanzus Longus“ übersetzt. Mein nächtlicher Besucher allerdings war deutlich weniger unterhaltsam. Das war dann tatsächlich Crampus Spasmus.
Die Kategorie „harmloser Wadenkrampf“ hat mit dem, was mich seit zwei Nächten heimsucht, ungefähr so viel gemeinsam wie ein juckender Mückenstich mit einer Zahnwurzelbehandlung – ohne Betäubung. Meine Beinmuskeln – Waden und Oberschenkel – ziehen sich brutal zusammen. Normalerweise folgt kurz darauf das Signal zum Entspannen – oder ich kann die Krämpfe zumindest schnell wegdehnen. Bei meinen Krämpfen bleibt jedoch genau dieses Signal aus – die Muskeln verharren im Krampf. Jede noch so kleine Bewegung macht die Kontraktion nur schlimmer. Und nachts, wenn die Muskeln „kalt“ sind, krampfen sie besonders gerne. Tagsüber bleibe ich – bis dato – verschont.
In der Regel steckt ein Ungleichgewicht von Magnesium, Kalium oder Calcium dahinter. Aber in meinem Fall gibt es ein paar zusätzliche Verdächtige: Chemo, Hormontherapie, Cortison – die heilige Trinität der nächtlichen Muskelkontraktion. Diese Medikamente können den Kaliumspiegel deutlich senken. Dazu kommt, dass ich aktuell wesentlich weniger aktiv bin als gewohnt. Der damit verbundene Muskelabbau und die fehlende Bewegung sind perfekte Verstärker.
Die Folgen sind weniger poetisch: Schlafmangel, die Dritte. Ich werde heute alle Bananen und Nüsse kaufen, die ich in die Finger bekomme – und hoffe, dass die Blutuntersuchung am kommenden Mittwoch weitere Aufschlüsse bringt, damit die Ärzte gegebenenfalls gegensteuern können.
Und zum Thema Empathie mit Frauen: Ich bin jetzt offiziell in der Menopause angekommen. Gestern saß ich entspannt im Café, genoss einen Latte Macchiato – und zack: Ich sah aus, als hätte ich gerade zehn Minuten Sauna hinter mir. Aus dem Nichts. Ohne Vorwarnung. Irre. Die antihormonelle Behandlung leistet nach knapp einem Monat ganze Arbeit. Ich werde jetzt wohl künftig immer mit einem Frotteehandtuch durch die Gegend laufen. Oder besser: in Joggingklamotten. Dazu eine Smartwatch Fit Pro – auf die ich dann bei jedem Schweißausbruch konzentriert schaue – und jogge einfach kurz auf der Stelle. Der Dichter Phädrus hatte es schon vor zweitausend Jahren auf den Punkt gebracht:
„Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.“
Aufmerksamkeit – 12. Oktober 2025
Ein wunderbares Wort, wenn man es mal auseinanderpflückt – Auf – merk – sam – keit. Vier Silben, ein kleiner Kosmos. „Auf“ steht für Richtung. Etwas öffnet sich, will hin zu etwas anderem. „Merk“ – also bemerken, wahrnehmen, im Gedächtnis behalten. Dann kommt „sam“ – als Haltung, als weiches Anhängsel – und schließlich „keit“ – die grammatische Zauberformel, die aus einem Zustand ein Wesen macht. Übersetzt hieße das also: „Die Bereitschaft, etwas bewusst zu bemerken.“ Schöner kann man es kaum sagen. Ein Zustand stiller Wachheit. Keine Aktivität, sondern eine Haltung. Aufmerksamkeit ist die leise Form von Liebe. Sie schaut hin und hört zu.
Inspiriert durch ein schönes, langes Telefonat mit einem guten Freund fiel mir dazu wieder etwas ein:
Vor knapp zwei Jahren ist die zweite Frau meines Opas verstorben – also meine Oma Nummer drei. Sie wurde 81 und überlebte vier verschiedene Krebsdiagnosen. Mehr Lebenswille geht kaum. Wie das bei älteren Menschen oft so ist, bietet der Alltag irgendwann nicht mehr allzu viel Abwechslung. Eine stark eingeschränkte Routine aus Frühstück, Mittagessen, Abendessen – dazwischen Fernsehen. Sie war lange Jahre für meinen Großvater da und hat ihn getragen. Auch diesem Umstand habe ich es zu verdanken, dass ich mit fünfzig noch einen Opa hatte. Ich wusste das immer zu schätzen. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens war ihr Mann nicht mehr an ihrer Seite. Noch weniger Routine.
Auch deshalb rief ich sie zweimal am Tag an und fragte, wie es ihr ging. Da gab es naturgemäß wenig Neues zu berichten, also wiederholte sie ihre liebgewonnenen und wichtigen Geschichten ein ums andere Mal. Selbst wenn ich ihr als Souffleur Stichworte gab – um ihr anzudeuten, dass ich die Geschichte schon kannte: „Ah, ja genau, die Frau Schmidt hat das doch zu dir gesagt?“ – wiederholte sie den Satz und erzählte die Geschichte genauso, wie sie es schon unzählige Male zuvor getan hatte: „Ja, genau, die Frau Schmidt hat das zu mir gesagt und dann hat sie gesagt …“
Ich musste eigentlich nicht mehr zuhören. Ich kannte mittlerweile alle Geschichten in- und auswendig. Das ging so seit fast über zwanzig Jahren. Da darf Dinner for One sich gerne die Silbermedaille um den Hals hängen. Meine Oma war sozusagen nicht „Same procedure as last year?“, sondern „Same procedure as every day?“ Das führte bei mir zu einer Omatelefonat-Monotonieintoleranz und zu einer immer häufiger einsetzenden Weghöreritis. Während sie sprach, beschäftigte ich mich oft mit anderen Dingen. Sehr respektlos. Mir fiel das irgendwann auf – und ich fand mein Verhalten etwas beschämend.
Ich änderte mein Skript. Ab da war ich während unserer Telefonate wirklich da. Ganz Ohr, ganz bei ihr. Ich suchte mir jedes Mal für unsere Plauderviertelstündchen ein schönes Plätzchen in einem Café und hörte ihr einfach und aufmerksam zu.
Wenn wir sitzen, dann stehen wir schon.
Wenn wir stehen, dann gehen wir schon.
Wenn wir gehen, dann sind wir bereits im Ziel.
Wir sind nie dort, wo wir wirklich gerade sind.
24 Bilder pro Sekunde
In der Film- und Videotechnik hat sich standardmäßig eine Bildrate von 24 Bildern pro Sekunde durchgesetzt. Sie sorgt dafür, dass wir eine Abfolge einzelner Bilder als fließendes Bewegtbild wahrnehmen. Ein 90-minütiger Film besteht also aus 129.600 Einzelbildern. Da unser Auge pro Sekunde nur etwa 16 verschiedene Einzelbilder unterscheiden kann, verschmelzen die Bildeindrücke im Sehzentrum des Gehirns zu flüssigen Bewegungsabläufen, sobald es mehr zu sehen bekommt. IMAX HD verwendet sogar 48 Bilder pro Sekunde.
So ungefähr geht es mir in den letzten Wochen ebenfalls. Ich nehme unzählige Einzelbilder wahr, die sich zu einer Filmsequenz zusammensetzen. Allerdings ist das absolut kein zusammenhängender und in sich stimmiger Film. Das könnte locker die Fortsetzung von Interstellar sein. „Schatz, hast du verstanden, worum es ging?“ – „Nein, aber Matthew McConaughey sah wieder klasse aus und die Musik war auch prima.“
In den letzten Tagen und Wochen sind diese „Einzelbilder“ besonders intensiv. Speziell jene, die mit dem Lebensende zu tun haben. Gestern ist Diane Keaton gestorben. 79 Jahre alt. Soll ich schreiben: nur 18 Jahre älter als ich? Das sind 6.570 Tage Unterschied – ein Wimpernschlag. Mit anderen Worten: noch 18 Mal in den Sommerurlaub fahren. Wenn’s gut läuft. Solche Idole sterben eigentlich nicht. Eigentlich soll man ja eigentlich nicht sagen. Robert Redford war für mich ebenfalls unsterblich.
Eine junge Schauspielerin, Wanda Perdelwitz aus Hamburg, wurde nur 41 Jahre alt. Im Grunde müsste man hier „41 Jahre jung“ schreiben. Sie kollidierte beim Fahrradfahren mit der Beifahrertür eines Autos und starb an den Unfallfolgen. Als ich die Nachricht las, dachte ich daran, was sie wohl geantwortet hätte, wenn man sie am Morgen des Unfalltages gefragt hätte, was heute so alles passieren könnte. Hätte sie die Beifahrertür in irgendeiner Form im Blickfeld gehabt? Darf man bezweifeln.
Mir kam in diesem Zusammenhang auch wieder das Unglück mit der Elevador da Glória ins Bewusstsein. Das historische Standseilbahn-System entgleiste am 3. September 2025, wobei 16 Menschen ums Leben kamen und 23 verletzt wurden. Lissabon. Perfekte Urlaubsstimmung. 30 Grad und schönster Sonnenschein. Die ikonische Standseilbahn-Touristenattraktion verbindet tiefer gelegene Stadtteile mit höher gelegenen Vierteln der Stadt der sieben Hügel. Ausgelassene Stimmung. Was hätten diese 39 Menschen wohl geantwortet, wenn man sie vor Fahrtantritt nach dem weiteren Tagesverlauf gefragt hätte?
Nicholas Taleb nennt solche Ereignisse „Schwarze Schwäne“. Ein schwarzer Schwan ist ein Ereignis, das völlig unwahrscheinlich ist, gänzlich überraschend eintritt und (fast) alle erstaunt. Insofern ist unser Leben im Prinzip ein schwarzer Schwan – ein unvorhergesehenes Ereignis, das niemand kommen sieht und die Spielregeln verändert.
Das war mein 2. September 2025. Mein Cygnus atratus.
Das Leben liefert in Endlosschleife Einzelbildmaterial – ohne Schnitt, ohne Dramaturgie, ohne Score. Vielleicht ist das ja die eigentliche Kunst: die Bilder nicht zu sortieren, sondern sie einfach vorbeiziehen zu lassen, ohne alles verstehen zu müssen. Und wenn’s zwischendurch ruckelt, dann liegt’s nicht an der Technik. Nur an der Seele, die manchmal einfach nicht hinterherkommt mit 24 Bildern pro Sekunde.
Die IMAX-Bildrate braucht im Leben niemand.
Tick-tack. Tick-tack. Tick-tack.
Kleine große Gesten
Der kann sich glücklich schätzen, der ein Dach über dem Kopf hat. Der gute Freunde hat. Der Prüfungen bestanden hat. Der in einem sicheren Land lebt. Eine Kurzübersicht der Google-KI. Recht hat sie. So richtig gendergerecht ist die Antwort allerdings nicht. Ich hoffe, das Darauf-Aufmerksam-Machen ist eine ausreichende Wiedergutmachung der googleschen Fehlprogrammierung.
Ich hätte dieser „sich-glücklich-schätzen“-Liste zwei bemerkenswerte Punkte hinzuzufügen. Wenn sich dein Hausarzt auch am Wochenende aus freien Stücken bei dir meldet und sich nach deinem Befinden erkundigt – und wenn dich im Gym die stets freundliche, aber angenehm zurückhaltende Fachkraft an der Rezeption fragt, ob du einen Moment Zeit hättest. Beides ist gestern passiert.
Nach meinem verkrampften Blogeintrag machte sich mein Leib- und Seelenklempner Sorgen und schlug mir verschiedene medikamentöse Möglichkeiten vor, um solch eine Nacht nicht noch einmal durchleben zu müssen. Wir besprachen am Telefon die Vor- und Nachteile von Muskelrelaxantien und entschieden uns für Diazepam 5 mg. Es hemmt Unruhe, Spannungszustände – genau mein Stichwort – und Angstgefühle. Entspannung für meine arg verkrampften Muskeln war angesagt. Ich erhielt das Rezept als PDF und ging mit einem angenehmen Gefühl von Geborgenheit zur Nachtapotheke. Palim, palim!
Schon am Nachmittag hatte mich die Rezeptionistin im Gym gefragt, ob ich kurz Zeit hätte. Hatte ich – und folgte ihr in den Wellnessbereich. Sie überreichte mir eine Packung Kräutertee der Marke „Hierbas Marcela“ aus Uruguay. Darauf hatte sie mit blauem Filzstift meinen Namen geschrieben, zwei Herzchen links und rechts daneben. Die spanische Übersetzung der Unterzeile des Tees ins deutsche: „Das ist eine gute Sache.“ Nein – das ist eine außergewöhnlich mitmenschliche Sache. Ich war sehr gerührt von dieser Geste. Sie umarmte mich und sagte: „Alles wird gut.“ Ich gab ihr zwei sachte Wangenküsse und antwortete: „Ja, das wird es.“
Der Seelenherztee war aussergewöhnlich lecker und das Diazepam hat Crampus Spasmus fast komplett in Schach gehalten. Sweet dreams are made of this.
Valium – 13. Oktober 2025
Auch ein guter Freund meldete sich per elektronischer Post bei mir und freute sich, dass das Diazepam Wirkung zeigte. Heute Nacht streckte Crampus alle Viere von sich und kapitulierte. Das nächtlich eingenommene Beruhigungsmittel – ein anderes Wort dafür: Valium – leistete ganze Arbeit. Ich kam nicht mal mehr dazu, den Schnuller aus dem Mund zu nehmen. Der vollgesabberte Kissenbezug persilt bereits in der Waschmaschine. Das Valium – vom lateinischen vale, was „Lebewohl“ bedeutet – stand sprichwörtlich an der Bahnsteigkante und schwenkte zum Abschied das Taschentuch. Der Peiniger war – vorerst – außer Sichtweite.
Heute will mich meine Onkologin anrufen und mit mir die Prednison-Situation besprechen. Meine erste Chemotherapie liegt jetzt genau eine Woche zurück – und ich Glücklicher blieb bislang von den zuvor erläuterten Nebenwirkungen verschont. Beinkrämpfe hatte sie jedoch nicht auf ihrem Beipackzettel stehen. Jetzt beginnen – sozusagen – zwei Wochen der Rekonvaleszenz, um meinen Körper für die zweite Sitzung wieder auf Vordermann zu bringen. Ich werde in meine „Bank der Vorbereitung“ alles einzahlen, was geht, um in zwei Wochen davon zu profitieren.
Am Abend treffe ich mich deshalb mit einer Fachfrau für Ernährung und Diätetik. Mein Magen hat schon ruhigere Zeiten erlebt. Ich werde mit ihr meinen Speiseplan durchgehen und hoffe auf Anregungen, wie ich meine induzierte Magenneurose in den Griff bekommen kann. Das nahrungsmittelverarbeitende Organ darf gerne etwas weniger grummeln.
Übrigens: Die Kefir-Abteilung von Müllermilch begrüßt mich mittlerweile schon wieder persönlich – und per Handschlag.
My Thoughts and Prayers are with … – 14. Oktober 2025
Unsere Politiker sagen dann: „Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Opfern und ihren Familien.“ Worte, die trösten sollen – aber nichts verändern. Symbolik statt Substanz. Echte Hilfe oder Unterstützung für die Betroffenen sieht anders aus.
Der Dalai Lama soll einmal gesagt haben: „Unser oberstes Ziel in diesem Leben ist es, anderen zu helfen. Und wenn du ihnen nicht helfen kannst, dann füge ihnen keinen Schaden zu.“ Mein Opa hatte da eine ganz ähnliche Lebensphilosophie: „Tue Gutes – und sprich nicht darüber.“
In den Vereinigten Staaten ist der Oktober der Breast Cancer Awareness Month. Auf Deutsch etwas spröde: „Monat der Brustkrebsaufklärung“. Dann prangt auf allen möglichen Produkten eine rosa Schleife – und man hat beim Kauf das gute Gefühl, Teil von etwas Gutem zu sein. Unser innerer Robin Hood klopft sich zufrieden auf die Schulter: Man hat ja bewusst ein bisschen mehr bezahlt, für den guten Zweck. Im Kleingedruckten steht dann aber oft, dass der Aufpreis nicht in Forschung oder Hilfe fließt, sondern in noch mehr Werbung – für noch mehr Aufmerksamkeit. Symbolik statt Substanz, die zweite.
Und warum eigentlich „nur“ Breast Cancer Awareness Month? Was ist mit all den anderen Formen von Krebs? Bin ich mit meinem Prostatakarzinom dann außen vor? Vielleicht liegt’s einfach an der magnetischen Anziehungskraft der weiblichen Brust – reine Spekulation. Es sollte schlicht Cancer Awareness Month heißen. Einer für alle.
Man kann natürlich öffentlichkeitswirksam bei einem Benefizlauf mitmachen – bunte Trikots, rosa Stirnbänder, Hashtag fürs gute Gewissen. Oder man überweist einfach einen Betrag X, still und leise. Wenn man allerdings zweimal die Woche mit der Hündin Bella im Park joggt, klatscht halt keiner.
In den letzten Wochen hatte ich das unfassbare Glück – wobei „Glück“ vielleicht gar nicht das richtige Wort ist –, dass so viele Menschen in meinem Umfeld an mich gedacht, mich unterstützt, mich umsorgt haben. Manche davon völlig unerwartet – wie meine Tee-Fee. Das ist echtes Da-Sein. Keine Symbolik. Keine Charity. Nur Menschlichkeit.
Der Dalai Lama hat es auf den Punkt gebracht: Anderen Menschen helfen – und ihnen keinen Schaden zufügen. Wir leben in einer Welt, in der man sich so ein uneigennütziges Verhalten kaum noch vorstellen kann.
Ich werde heute Abend für jede und jeden meiner Beisteher, Helfer, Unterstützer und Kümmerer eine Kerze anzünden. Die freundliche Kassiererin im Supermarkt fragte mich vorhin, was ich denn mit 200 Teelichtern anfangen wolle. Ich lächelte und sagte: „Ich will die Welt ein bisschen heller machen – für all die, die sie mir in den letzten Wochen erhellt haben.“
Danke. Thank you. Gracias. Merci.
… to be continued …
Autor: Robert Gerding – 14.10.2025